Am 30. Juli 2022 begann die „Woche der Demokratie“. Sie hat bereits gezeigt, dass es der Berliner Szene gelungen ist, einen Teil des aktuell bundesweit aktiven Milieus von Verschwörungsanhänger_innen nach Berlin zu mobilisieren. Zu den Veranstaltungen am im Vorfeld als Haupttag der Proteste angekündigten 1. August kamen bei dem sogenannten „Medienmarsch“ einige tausend Personen zusammen. Ähnlich große Versammlungen hatten zuletzt am 25. Juni in Frankfurt/Main stattgefunden, wo sich ebenfalls um die 5.000 Personen versammelten.
Bestätigt haben sich damit gleich mehrere der im Vorfeld veröffentlichten Einschätzungen. So besitzt der Jahrestag der ersten großen Berliner Querdenken-Versammlungen im Jahr 2020 weiterhin einen hohen Stellenwert für die Szene. Auch die zwischenzeitliche Inhaftierung des Querdenken-Gründers dürfte zur Teilnahme motiviert haben – was auch die vielfältigen Solidaritätsbekundungen während der Versammlungen belegen. Allerdings haben sich die bundesweit aktiven Verschwörungsanhänger_innen inzwischen offenbar so gut vernetzt, dass auch ohne größere öffentlich wahrnehmbare Mobilisierung eine große Zahl überregionaler Teilnehmender anreiste; genaue Einschätzungen zur Mobilisierungsfähigkeit sind dadurch schwieriger geworden. Deutlich wurde zudem, dass die in vorangegangen Einschätzungen der MBR bereits festgestellte Feindmarkierung von Pressevertreter_innen und etablierten Medien nun dazu geführt hat, dass „die Medien“ zum zentralen Thema der Versammlungen in Berlin wurden. Neben Bestrafungsandrohungen gab es bei den bisherigen Tagen der „Woche der Demokratie“ konkrete Anfeindungen von Journalist_innen, entsprechend des verschwörungsideologischen Narratives, demzufolge die angeblich Verantwortlichen für die Pandemie zur Rechenschaft gezogen werden sollen.
Trotz dieses Mobilisierungserfolges, was die Zahl der Teilnehmenden angeht, bleibt der Wirkungskreis weiterhin auf das eigene Milieu beschränkt. Bei den Teilnehmenden der Proteste in Berlin handelt es sich mehrheitlich um regional aktive Verschwörungsanhänger_innen, die in der Regel in ihren lokalen Wirkungsorten einen ständig mobilisierbaren Kern ansprechen, aber selten größere öffentliche Wahrnehmung erzielen und mit an allen Orten rückläufigen Teilnehmendenzahlen konfrontiert sind. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass diesem verdichteten Protestmilieu ein mittlerweile mehr oder weniger geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild zugrunde liegt. Dieses Weltbild beinhaltet die Suche nach immer neuen Themen, um eine vermeintliche Verschwörung aufzudecken und Selbstbestätigung zu finden. Insofern muss auch zukünftig mit ähnlich großen Protesten gerechnet werden. Gleichzeitig stellen bundesweite Mobilisierungen wie aktuell nach Berlin ein wichtiges Moment der Selbstvergewisserung dar und werden als positives „Highlight“ in die eigene verschwörungsideologische Widerstandserzählung eingeschrieben. Inwieweit die nun größer als erwartet ausgefallenen Proteste zum zweiten Jahrestag der Querdenken-Versammlungen in Berlin der Szene zu neuem Auftrieb verhelfen und die bundesweiten Netzwerke stärken, bleibt abzuwarten.
Auch wenn die momentanen Mobilisierungen weit von den großen Versammlungen des ersten Pandemiejahres entfernt sind, ist ein antidemokratisches Sockelpotenzial sichtbar geworden, dass durchaus reaktivierbar bleibt. Die Corona-Proteste haben gezeigt, wie schnell und in welchem Ausmaß sich der gesellschaftliche Resonanzraum für verschwörungsideologische, antisemitische und antidemokratische Positionen vergrößern kann, wenn zielbewusste Akteur_innen gesellschaftliche Krisenlagen propagandistisch ausnutzen. Eine ähnliche Beschädigung der demokratischen Kultur ist auch in zukünftigen Krisen zu befürchten – wenn demokratische und progressive Kräfte keine eigene Handlungs- und Mobilisierungsfähigkeit zeigen.
Es zeichneten sich bereits in der aktuellen Mobilisierung nach Berlin Versuche einer inhaltlichen Erweiterung um Themen wie den Krieg in der Ukraine, die Energieversorgung oder die Preissteigerungen ab. Allerdings fehlt, zumindest bisher in Berlin, mit Blick auf mögliche kommende verschwörungsideologisch geprägte Proteste ein gemeinsames Narrativ zu den verschiedenen Krisen, hinter dem sich große Teile der Szene versammeln könnten. Bisher gelingt dies vor allem dort, wo etablierte Strukturen und erfahrene Akteure die Proteste organisatorisch unterstützen und als Stichwortgeber fungieren. Meist wird das Potenzial, das sich spätestens mit den flüchtlingsfeindlichen Protesten ab 2014 etabliert hat, durch erfahrene Kräfte aus dem Rechtsextremismus und etablierten rechtspopulistischen Akteuren aktiviert und auf neue Themen eingeschworen.
Stand: 2. August 2022
Zu möglichen Gegenprotesten informiert unser Schwesterprojekt Berlin gegen Nazis.