Einschätzung zu den kommenden verschwörungsideologischen Versammlungen in Berlin

Unter dem Motto „Woche der Demokratie“ mobilisiert das verschwörungsideologische und rechtsoffene Milieu für den Zeitraum vom 30. Juli bis 6. August 2022 erneut nach Berlin.

Die Mobilisierung nimmt Bezug auf den Jahrestag der ersten bundesweiten „Querdenken“-Versammlung am 1. August 2020, zu der sich mehrere zehntausend Personen in Berlin versammelt hatten. Schon 2021 hatten regionale Strukturen mit einer Mobilisierung zum Jahrestag versucht, an zurückliegende Demonstrationserfolge anzuknüpfen – allerdings vergeblich. Angesichts der zu beobachtenden Regionalisierung der Proteste, die zuletzt wenig Außenwirkung entfalteten und meist nur noch einen harten Kern mobilisierten, ist auch für die nun angekündigten Versammlungen keine signifikante überregionale Mobilisierung festzustellen. Gleichwohl hat der beworbene Jahrestag für die verschwörungsideologische Szene einen hohen symbolischen Stellenwert, der zudem durch die zwischenzeitliche Inhaftierung des „Querdenken“-Gründers noch emotional aufgeladen werden könnte.
Trotz einer sich abzeichnenden Abnutzung der Aktionsform, greifen die Organisator_innen der „Woche der Demokratie“ auf das immer gleiche Repertoire von Demonstrations- und Kundgebungsformaten zurück, oft mit denselben Inhalten und Redner_innen. Neben mehreren Demonstrationen sollen zwei angekündigte Versammlungen in Parkanlagen sowie zusätzlich zwei Dauerkundgebungen im Regierungsviertel stattfinden. Ein nennenswerter Zulauf ist allerdings nicht zu erwarten. Auch vom Organisationskreis rund um die „Demo-Tour“ – ein Zusammenschluss verschwörungsideologischer Kleinstgruppierungen aus Berlin, bei dem die Gruppe „Freedom Parade“ tonangebend ist – wird besonders Montag, der 1. August 2022, als Haupttag der Proteste beworben.

Feindbild Presse

Am 1. August soll es u.a. ab 15 Uhr eine Neuauflage des bereits mehrfach durchgeführten sogenannten Medienmarsches geben. Die pressefeindliche Ausrichtung dieser Aktionsform ist seit Sommer 2020 Teil des Repertoires verschwörungsideologischer Versammlungen – neben auch tätlichen Angriffen auf Presse-Vertreter_innen. Das durchaus konfrontativ angelegte Demonstrationskonzept, das an den Sitzen von sechs Berliner Medienanstalten und Tageszeitungen vorbeiführt, soll offenbar Anreize für eine überregionale Teilnahme schaffen. Von Beginn an ging es in den verschwörungsideologischen Protesten darum, Feinde zu markieren und vermeintlich Schuldige für die Pandemie zu benennen. Neben prominenten Politiker_innen gerieten vor allem die etablierten Medien in den Fokus. Wie bei vorangegangenen Demonstrationen und Kundgebungen, ist mit gezielten Anfeindungen von Presse-Vertreter_innen sowie im Rahmen des „Medienmarsches“ auch von Mitarbeitenden der Medienanstalten zu rechnen.
Indes haben sich in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren eigene verschwörungsideologische Online-Netzwerke und Medienplattformen entwickelt, die sich in Teilen professionalisiert haben. Diese vermeintlichen Alternativen zu etablierten Medien tragen nicht nur zur massiven Verbreitung von Falschmeldungen und Verschwörungserzählungen bei, sie sind auch für die Selbstvergewisserung und Mobilisierung von Verschwörungsanhänger_innen ein relevanter Faktor. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Akteur_innen aus diesem Kreis stark vertreten sein werden, um ihre Angebote zu präsentieren, neue Nutzer_innen zu gewinnen und um Öffentlichkeit für die Proteste in Berlin herzustellen.

Organisatorische Schwächen

Den lokalen verschwörungsideologischen Akteur_innen selbst ist es nach dem Wegfall von „Querdenken“ als dem organisatorischen Überbau, der für die Durchführung größerer und professionell wirkender Versammlungen in Berlin und bundesweit eine wichtige Funktion hatte, nicht gelungen, den Bewegungscharakter der Szene in der Stadt aufrechtzuerhalten. Als sich mit Beginn der sogenannten Montagsspaziergänge Ende 2021 regionale Hotspots entwickelten, zeichnete sich schnell ab, dass Berlin nicht dazu gehören wird. Wenn zurückliegende Versammlungen dennoch größere Teilnehmendenzahlen hatten, hing dies in der Regel mit der Rolle Berlins als Sitz der Bundesregierung zusammen. So konnten anlässlich der Bundestagsdebatte nebst Abstimmung über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht deutlich mehr Menschen als sonst in der Stadt, aber auch von außerhalb nach Berlin mobilisiert werden. Dem heterogenen Protestmilieu, insbesondere der Versammlungen von „Querdenken“, gehörten in der Vergangenheit regelmäßig rechtsextreme Akteure an; antisemitische, NS-verharmlosende und antidemokratische Inhalte waren und sind ein akzeptierter Teil der Proteste. Insofern muss immer mit der Teilnahme von organisierten Rechtsextremen an den verschiedenen Versammlungen gerechnet werden.

Antidemokratische Mobilisierungen

Die Versuche der verschwörungsideologischen Szene, neue Themen für die Mobilisierung zu finden, sind bisher nur ansatzweise gelungen. Festzustellen ist aber mit Blick auf die Bewerbung der „Woche der Demokratie“, dass neben der Thematisierung des Krieges in der Ukraine bereits versucht wird, die Inflation und die Preissteigerungen aufzugreifen. Bedeutung gewannen die bisherigen Aktionen der Szene jedoch bislang meist durch den gemeinsamen Regelübertritt. Insbesondere mit dem Wegfall der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sind solche Aktionen jedoch schwieriger geworden. Durch den Rückgang individuell spürbarer Auswirkungen der Pandemie im Alltag ließen sich immer weniger Menschen zu den Protesten mobilisieren. Aktuell kann die Szene neben weiteren Verschwörungserzählungen zur Erklärung von Krisensituationen lediglich auf allgemeine Empörung setzen, und zumindest im Fall der Preissteigerungen hat sie damit kein Alleinstellungsmerkmal. Im Aufgreifen der aktuellen Ereignisse dürfte der verschwörungsideologischen Szene allein eine breite gesellschaftliche Mobilisierung, wie sie im Fall der staatlichen Pandemieschutzmaßnahmen zeitweise zu beobachten war, auf absehbare Zeit wohl nicht gelingen. Dennoch haben die zurückliegenden zweieinhalb Jahre eine Ablehnung demokratischer Prozesse und ihrer Institutionen sichtbar werden lassen, die von den bestehenden Netzwerken im Rahmen der „Woche der Demokratie“ weiter befeuert wird. Auch wenn diese Ablehnung aktuell noch keine entsprechende Mobilisierung auf der Straße in Form von großen Protestveranstaltungen mit sich bringt, bleibt das in der Vergangenheit sichtbar gewordene antidemokratische Sockelpotenzial grundsätzlich reaktivierbar.

Stand: 25. Juli 2022

Zu möglichen Gegenprotesten informiert unser Schwesterprojekt Berlin gegen Nazis.