Der Bezirk Lichtenberg gilt als eine rechte Hochburg in Berlin. Insbesondere im Weitlingkiez konnte sich eine rechtsextreme Szene mit Kneipen und Läden entwickeln, Migranten und Andersdenkende leben in Angst vor rassistischen Übergriffen. Jetzt war Auftakt für die Kampagne “Hol dir den Kiez zurück!”.
Wenn es nach Detlef Mirek geht, dem Wirt der Kneipe “Kiste”, dann soll den Bewohnern des Weitlingkiezes im Berliner Bezirk Lichtenberg bald vorgeschrieben werden, was sie essen dürfen und was nicht. “Fresst keine Döner”, so heißt eine Initiative, mit der Mirek zum Boykott türkischer Imbissbuden aufruft. Die T-Shirts zur Anti-Döner-Aktion verkauft er in seiner Kneipe und auf dem jährlichen Weitlingstraßenfest.
Die “Kiste” ist ein Lokal, das gemeinhin als Treffpunkt für Neonazis bekannt ist. Und es ist nicht das einzige seiner Art in Lichtenberg. Bereits in den neunziger Jahren geriet der Stadtteil in die Schlagzeilen, als im März 1990 Neonazis in der Weitlingstraße ein Haus besetzten. In den Folgejahren konnte sich im Bezirk eine aktive und organisierte rechtsextreme Szene entwickeln, die über eine gut funktionierende Infrastruktur mit Läden und Kneipen verfügt. Ein Beispiel: das 1997 eröffnete “Cafe Germania”, von Rechtsextremisten betrieben und ein zentraler Szenetreff für Neonazis aus dem gesamten Bundesgebiet. Ein Jahr später wurde das Cafe nach breiten antifaschistischen Demonstrationen geschlossen.
Neonazi-Treffs mit unscheinbaren Namen
Doch in Lichtenberg ist seitdem keine Ruhe eingekehrt – im Gegenteil. Insbesondere der Weitlingkiez gilt heute als Rückzugsgebiet für die rechte Szene. Hier wohnen zahlreiche organisierte Neonazis, darunter auch viele Mitglieder der 2005 verbotenen “Kameradschaft Tor” sowie ihrer Nachfolgeorganisation “Freie Kräfte Berlin”. Die zumeist jugendlichen Neonazis fallen durch aggressives Verhalten gegenüber Migranten und Andersdenkenden auf, nicht wenige sind bereits vorbestraft. Ältere Rechtsextreme sind eher im subkulturellen Skinheadbereich aktiv und organisieren sich in der “Kameradschaft Spreewacht”. Spontane Gewalttaten gegen Migranten gehen allerdings nicht nur von Mitgliedern der Kameradschaften aus, sondern vor allem auch von unorganisierten Rechten, die im Gebiet der Weitlingstraße wohnen.
“Es ist kein Zufall, dass in diesem Stadtteil am 1. Mai 2004 der zentrale NPD-Aufmarsch mit 3500 Teilnehmern stattfand”, erfährt man in einer Broschüre der Kampagne “Hol dir den Kiez zurück! – Lichtenberg gegen Rechts”, organisiert von verschiedenen antifaschistischen Gruppen aus Berlin. Vermutlich sind Lichtenberger Neonazis auch für die rechtsextremen Gewalttaten verantwortlich, die im Frühjahr dieses Jahres in Friedrichshain verübt wurden. Solche Gewaltaktionen werden häufig in den Szenetreffs und Kneipen im Weitlingkiez geplant. Das “Cafe Germania” musste zwar schließen, dafür sind aber neue Kneipen entstanden, mit unscheinbaren Namen. “Kiste” und “Piccolo” – das klingt nicht unbedingt nach stolzdeutscher Gesinnung und rechten Schlägern. Aber Informationen der Lichtenberg-Kampagne zufolge ist das Stammpublikum eindeutig der Neonazi-Szene zuzuordnen. Die Betreiber dulden die rechten Gäste oder sympathisieren sogar teilweise mit ihnen. Der “Kiste”-Wirt Detlef Mirek macht auch gar kein Geheimnis aus seiner rassistischen Einstellung: mehrfach beteiligte er sich an NPD-Aufmärschen, in Kürze wird er eine Haftstrafe absitzen müssen – im letzten Jahr hatte er einen Kurden angegriffen und verletzt.
Gekommen um zu bleiben
Lichtenberg am 22. Juli: durch die Weitlingstraße marschieren rund 450 Demonstranten, um endlich zu thematisieren, was der Großteil der Lichtenberger nicht wahrhaben will: der Stadtteil ist ein Schwerpunktzentrum der Berliner Rechtsextremisten. “Leider hat sich gezeigt, dass es äußerst schwierig ist, die Leute hier zum Handeln zu bewegen”, sagt ein Sprecher der Antifaschistischen Linken Berlin. Im Kiez werde die Gefahr von Rechts kaum wahrgenommen, und diejenigen Leute, die sich eigentlich engagieren wollen, haben Angst. “Sie befürchten, von Neonazis eingeschüchtert und angegriffen zu werden, wenn sie sich offen gegen Rechts positionieren”.
Diese Situation wollen die Initiatoren der Kampagne “Hol dir den Kiez zurück!” ändern. Zumeist linke und alternative Jugendliche beteiligen sich an der Demonstration, die Route führt auch an den Kneipen “Kiste” und “Piccolo” vorbei. Per Lautsprecher werden Demonstrierende und Anwohner über rechtsextreme Strukturen vor Ort informiert, ein Song der Band “Wir sind Helden” unterstreicht, dass der Widerstand gegen die Rechten gerade erst begonnen hat: “Gekommen um zu bleiben, wir gehen nicht mehr weg”.
Auffällig ist die sehr geringe Beteiligung der sich nicht zum linken Spektrum zählenden Bevölkerung. Die Menschen begnügen sich damit, die Demonstration vom Fenster aus zu beobachten: häufig skeptische Blicke, ein Mann mittleren Alters zeigt den Demonstrierenden den Mittelfinger. Gehört ihm vielleicht das Auto mit der “Böhse Onkelz”-Aufschrift* an der Heckscheibe?
“Heil Hitler, das macht man so in Lichtenberg!”
Einfach ist es nicht, in Lichtenberg etwas zu bewegen. In der Öffentlichkeit ist ein Problembewusstsein kaum vorhanden. Und das, obwohl man alarmiert sein müsste, wenn man mit offenen Augen und Ohren durch die Straßen läuft und regelmäßig die Nachrichten verfolgt:
In der Vergangenheit gab es im Bezirk eine Vielzahl von rassistischen und rechtsextremen Übergriffen. Der spektakulärste ist erst zwei Monate her: am Abend des 19. Mai wurde der kurdischstämmige Politiker Giyasettin Sayan (Linkspartei) in der Weitlingstraße von zwei Männern brutal niedergeschlagen und als “Scheißtürke” beschimpft. Nur drei Tage später bedrohten und beleidigten mehrere Neonazis die Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich (Linkspartei) während einer Fernsehreportage im Weitlingkiez. Im April randalierten Neonazis vor einem von Vietnamesen betriebenen Blumengeschäft. Von einem Mitarbeiter der Stadtreinigung darauf angesprochen, rief einer der Täter: “Heil Hitler, das macht man so in Lichtenberg!” Nur drei Vorfälle von vielen, die Liste ließe sich fortsetzen.
Fragt man die Bewohner des Kiezes nach ihrer Einstellung zu dem Thema, bekommt man häufig ernüchternde Antworten. Viele reagieren inzwischen abwehrend und sehen die Neonazis im Weitlingkiez nicht als ernsthaftes Problem an. Trotz der erwiesenermaßen realen Bedrohung durch Rechtsextreme, trotz – oder gerade wegen? – der Tatsache, dass auch Lichtenberg in der Liste der viel diskutierten “No-go-areas” auftaucht, bagatellisieren die Bewohner rechte Gewalttaten als Übertreibungen der Boulevardpresse. Die meisten Lichtenberger empfinden die Situation keineswegs als besorgniserregend. Allerdings sei ergänzend hinzugefügt, dass es sich hierbei um Menschen handelt, die nicht zu potenziellen Opfergruppen rechter Gewalt zählen. Giyasettin Sayan, Christina Emmrich und der vietnamesische Blumenhändler erzählen eine andere Geschichte. Der Weitlingkiez wird von vielen Migranten inzwischen gemieden; sie wissen, dass es sich um gefährliches Terrain für sie handelt. Das Klima der Angst wird zusätzlich durch rechtsextreme Aufkleber und Plakate geschürt.
Björn von Swieykowski von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR) betont, dass die Lichtenberger selbst aktiv werden müssen, wenn sich etwas ändern soll: “Die Bewohner sollten den Rechten nicht einfach das Feld überlassen, sondern das Heft des Handelns in die Hand nehmen”. Es gebe bereits viel lobenswertes Engagement, insbesondere im Bezirksamt Lichtenberg: “Die Bezirksbürgermeisterin Christina Emmrich nennt die Probleme beim Namen und will eine offensive Auseinandersetzung mit den Rechten führen. Ziel ist es, diese Einstellung auch auf die Bevölkerung zu übertragen. Die Leute müssen ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie ihren Kiez repräsentieren und etwas zum Positiven verändern können”.
Ein erfolgreiches Projekt ist auch die Ausstellung “Motiv Rechts” der Antifa Hohenschönhausen. Auf mehreren Schautafeln wird die Öffentlichkeit über rechtsextreme Strukturen in Lichtenberg aufgeklärt, und das Angebot wird wahrgenommen: mehrere tausend Menschen haben die erste Ausstellung besucht, inzwischen existiert eine aktualisierte Version mit einer dazugehörigen Broschüre. Die Tafeln werden unter anderem in Jugendclubs, Bibliotheken und Bezirksämtern ausgestellt.
NPD bald im Abgeordnetenhaus?
Die Initiatoren der Kampagne erhoffen sich von der Demonstration, dass die Leute am Fenster sich langsam aus ihren Häusern trauen und vielleicht beim nächsten Mal mit dabei sind: “Längerfristig wollen wir erreichen, dass sich die gesamte Bevölkerung gegen Nazis engagiert, nicht ausschließlich Jugendliche aus dem Antifa-Bereich, aber wir sind erst am Anfang”. Dabei ist die Antifa durchaus selbstkritisch. Bei einem Koordinationstreffen wird bestätigt, dass sich viele Lichtenberger noch nicht mit der Kampagne identifizieren können. Als Schlüssel zum langfristigen Erfolg wird eine bessere Kooperation mit den einzelnen lokalen Akteuren genannt. Die Kampagne soll den Leuten nicht von außen “aufgedrückt” werden.
Die Demonstration ist der Auftakt einer Reihe von Veranstaltungen und Aktionen, die in den nächsten Wochen stattfinden soll: Infotische zur Aufklärung über rechte Strukturen in Lichtenberg, Flugblätter und Broschüren zum Thema, eine Internetseite. Ein wichtiger Aspekt der Kampagne: die Menschen sollen über die wahren Ziele der NPD aufgeklärt werden. Die heruntergesetzte Drei-Prozent-Hürde und die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre könnten der NPD bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) am 17. September einen Erfolg bescheren. Am Vorabend des Wahltags soll ein Openair-Konzert unter dem Motto “Beats against Fascism” dazu beitragen, den Rechten den Kiez streitig zu machen.
Mit FDJ-Hemd gegen Nazis
Wie schwierig es sein kann, sich in Lichtenberg gegen Rechtsextremismus zu engagieren, wurde deutlich, als den Organisatoren der Kampagne verboten wurde, bereits angemeldete Informationsstände aufzustellen. Die Begründung der Polizei: zu viele Baustellen in der Gegend. Interessanterweise wurden andere Informationsstände in unmittelbarer Nähe genehmigt.
Die Kampagne will letztendlich erreichen, dass sich die Bewohner des Weitlingkiezes aktiv mit dem Problem Rechtsextremismus auseinandersetzen, anstatt wegzusehen und zu verharmlosen. Ob man dieses Ziel in absehbarer Zeit erreichen wird, bleibt abzuwarten. Immer wieder gibt es einzelne Leute, die Veranstaltungen wie die Demonstration am Wochenende zur Durchsetzung ihrer Partikularinteressen missbrauchen – indem sie beispielsweise Flugblätter mit der Forderung “KPD-Verbot aufheben!” verteilen oder blaue FDJ-Hemden tragen. Diese “Aktionen” erschweren das Anliegen der Organisatoren, ein wirklich breites Bündnis zu schaffen, das Leute aus allen politischen und gesellschaftlichen Schichten mit einbindet.
(Jan Schwab)
Zum Artikel bei mut-gegen-rechte-gewalt.de
- Anm. d. Red.: Die “Böhsen Onkelz” sind eine in der rechtsextremen Szene beliebte Rockband. Die Bandmitglieder distanzieren sich heute zwar teilweise von ihren frühen Titeln “Türken raus” und “Deutschland den Deutschen”, aber zahlreiche Neonazis sind gerade durch diese Lieder auf die Band aufmerksam und zu Fans geworden.