Berner Zeitung (07.06.2006)

Nein, wie eine «No-Go-Area» – eine Zone, in der man sich besser nicht aufhalten sollte – sieht der Weitlingkiez eigentlich nicht aus. Wer das Wohnquartier in Berlin-Lichtenberg an einem Nachmittag besucht, dem zeigt sich ein friedliches und ein wenig biederes Strassenbild, wie es typisch ist für den Osten der Stadt: Vor dem Dönerimbiss hängen Jugendliche herum, ein Schuhgeschäft wirbt mit Billigpantoffeln, der Bäcker nebenan bietet «Kaffee to go» für 1.20 Euro, und vor dem «Bella Mare» sitzt ein Pärchen und teilt sich eine Pizza. Doch der Eindruck täuscht. Just in das italienische Lokal hat sich vor kurzem ein türkischstämmiger Politiker geflüchtet, nachdem er von Rechtsradikalen niedergeschlagen worden war.

Rechtsextreme Gewalt

Es ist kein Zufall, dass der Angriff ausgerechnet in der Weitlingstrasse passiert ist. Erst im April wurde hier ein von Vietnamesen betriebenes Blumengeschäft von rechtsradikalen Jugendlichen demoliert. Die Gegend gehört – zusammen mit rund einem halben Dutzend weiteren Stadtteilen im Osten Berlins – seit längerem zu einem Schwerpunkt rechtsextremer Gewaltvorfälle. Der Weitlingkiez geniesst sogar bundesweit einen legendären Ruf in der rechten Szene, weil es im Frühjahr 1990, in der Wendezeit, zu mehreren Hausbesetzungen durch Neonazis kam. Auch heute wohnen in den kleinen Quartierstrassen mit dem hohen Altbaubestand zahlreiche Rechte, darunter auch Mitglieder der verbotenen Kameradschaft Tor.

Spurensuche

Rechtsextreme aus ganz Berlin würden hierher ziehen, sagen Kenner der rechten Szene. Erst abends zeige das Quartier sein zweites Gesicht, warnen sie. Gruppen von Neonazis seien dann unterwegs und ausländisch aussehende Menschen sollten sich dort besser nicht mehr aufhalten.

Wer aber genau hinschaut, entdeckt auch tagsüber Hinweis auf eine aktive Neonaziszene: Ein paar einschlägige Kneipen, den Tatoo-Laden «Ostblock»; schräg gegenüber vom einem Balkon eine Fahne der ehemaligen Provinz Ostpreussen, die bis 1945 zum Deutschen Reich gehörte.
Seit dem Überfall auf den türkischstämmigen Politiker versuchen sich die ansässigen Händler und Gewerbetreibende gegen die rechte Gewalt zu wehren. Sie haben sich zur Initiative «Weitlingstrasse» zusammen geschlossen und unter anderem Schaufensterplakate mit der Aufschrift «Nein zur Gewalt» drucken lassen. So lobenswert die Aktion ist, vertreiben wird sie die rechte Szene kaum.

«Licht-Blicke»

«Im Weitlingkiez hat man sich an die Neonazis gewöhnt. Nur wenige Bewohner stören sich an ihnen», sagt eine Mitarbeiterin vom Netzwerk «Licht-Blicke», die lieber ungenannt bleiben möchte. Viele Jahre lang habe man die Szene unterschätzt, so dass sie ungehindert habe wachsen und sich etablieren können. Die meisten Übergriffe würden nicht angezeigt, alltägliche Bedrohungssituationen häufig gar nicht dokumentiert, bedauert die Szenekennerin.

«Licht-Blicke», gefördert vom Bundesfamilienministerium, führt ein Online-Register rechtsextremer Vorfälle im Quartier und berät Menschen, die rassistische und rechtsextreme Entwicklungen in Lichtenberg beobachten und etwas dagegen unternehmen wollen.
Lichtenberger Lokalpolitiker sind sich der großen rechtsradikalen Szene in ihrem Wahlkreis bewusst. Statt auf eine erhöhte Polizeipräsenz setzen sie indes auf Prävention und versuchen, die Zivilgesellschaft für Aktionen zu gewinnen. Vor zehn Tagen etwa zogen an einem Protestmarsch gegen rechtsextreme Gewalt über tausend Menschen durch Lichtenberg.

Gegen Stigmatisierungen

«Wir dürfen keine Angstzonen zulassen, in die sich Migranten, Homosexuelle oder andere Menschen nicht hineintrauen», sagt auch der Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf. Das Problem in Lichtenberg sei aus der Gesellschaft heraus entstanden und könne nur von ihr aus bekämpft werden. Vom Begriff «No-Go-Area» hält Wolf wenig.

Auch Rassismusexperten warnen vor der Stigmatisierung einzelner Stadtgebiete. Damit ignoriere man, dass in diesen Stadtteilen potenzielle Opfer von Rechtsextremen wohnten oder arbeiteten, so Bianca Klose vom Mobilen Beratungsteam Berlin-Brandenburg. Zudem suggeriere eine solche Landkarte, dass das übrige Stadtgebiet sicher sei.
Der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening betont, dass in Berlin nach wie vor eine offene Atmosphäre herrsche, auch wenn diese immer wieder bedroht sei.
Einige afrikanische Botschaften haben angesichts der Häufung rassistischer Vorfälle im Vorfeld der Fussball-WM immerhin zu einer besonderen Vorsicht gemahnt. So rät die Botschaft von Ghana, «vor allem abends nicht mehr alleine auszugehen».

Motto der Fussball-WM

Expliziter äussert sich der Afrika-Rat, der Dachverband afrikanischer Vereine in Berlin und Brandenburg: Nach wie vor gebe es in Berlin und Brandenburg «No-Go-Areas», in denen Menschen mit sichtbar afrikanischer Herkunft einem hohen Risiko rassistisch motivierter Gewalt ausgesetzt seien.

Dies widerspreche nicht zuletzt dem Motto der Fussball-WM «Die Welt zu Gast bei Freunden». Menschen afrikanischer Herkunft, speziell mit dunkler Hautfarbe, hätten eher das Gefühl, zu Gast bei Feinden zu sein, heisst es auf der Homepage. Von der angekündigten Liste von «No-Go-Areas» sieht der Dachverband allerdings inzwischen ab. Stattdessen will man für dunkelhäutige WM-Besucher einen Katalog mit Vorsichtsmassnahmen herausgeben.

Sechs Tage nach dem Anpfiff der Fussball-WM eröffnet in Berlin nächste Woche die Ausstellung «Ballarbeit – Szenen aus Fussball und Migration». Die Ausstellung handelt auf der einen Seite von Integration durch Fussball – «von der Uefa Champions League bis zur F-Jugend» – und thematisiert andererseits den beinahe alltäglichen Rassismus in Fussballstadien. «Ballarbeit» (www.flutlicht.org) ist Teil eines antirassistischen Aktionsprogramms, das derzeit durch Deutschland tourt.
Veranstalter ist der Verein «Flutlicht», der vor vier Jahren von Fussballfans gegründet wurde und sich gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit im Fussball einsetzt. «Flutlicht» gehört zum europaweiten Netzwerk «Football Against Racism in Europe» (Fare), das auch mit der Uefa zusammenarbeitet.

(pac)

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