Der letzte Eintrag ist vom 21. November 2011: “Ein 35-jähriger Mitarbeiter einer Reinigungsfirma wird gegen 23.10 Uhr auf dem U-Bahnhof Osloer Straße von vier Männern rassistisch beleidigt, geschlagen und verletzt. Zwei Mitarbeiter des BVG-Sicherheitsdienstes können drei der Täter festhalten”, steht in der Chronik von “Reachout”.
Die Opferberatungsstelle registriert sämtliche Übergriffe mit möglichem rassistischen oder rechtsextremen Hintergrund in Berlin, die durch Polizei- und Presseberichte für die Stadt bekannt werden. In diesem Jahr zählte “Reachout” 100 solcher Fälle.
Die Aktivitäten der rechtsextremen Szene seien den Sicherheitsbehörden nicht erst seit Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle bekannt, sagt “Reachout”-Mitarbeiterin Helga Seyb. “Diese Aktivitäten wurden aber oft als wilde Spinnerei abgetan”, kritisiert sie.
Der Berliner Verfassungsschutz schätzt, dass rund 1600 Rechtsextreme in Berlin aktiv sind, rund 700 von ihnen werden als gewaltbereit eingestuft. Laut Kriminalitätsstatistik gab es im vergangenen Jahr 29 Gewaltdelikte mit antisemitischem, fremdenfeindlichem oder gegen Links gerichteten Hintergrund. Schmierereien und Propaganda mitgerechnet, waren es insgesamt 1127 entsprechende Delikte. Aktuelle Zahlen für dieses Jahr liegen noch nicht vor.
Lebensgefährliche Kopfverletzungen
Helga Seyb von “Reachout” hat ihr Büro in der Kreuzberger Oranienstraße. Die Beratungsstelle kümmert sich um Menschen, die bei rechtsextremen und rassistischen Übergriffen körperlich und seelisch verletzt wurden. Eine Karte mit schwarz-weißen Fotografien hängt in ihrem Zimmer an Wand.
Es sind nicht irgendwelche Fotos, es sind “Tatorte”, Plätze, an denen Menschen wegen ihrer Hautfarbe oder Gesinnung beschimpft, geschlagen, getreten wurden. Die “Tatorte” liegen im gesamten Stadtgebiet. “Viele glauben ja, dass es nur im Osten rechtsextreme Gewalt gibt”, sagt die 55-Jährige. “Aber auch die Westbezirke sind von diesem Problem betroffen.” Deshalb sei es besonders wichtig, “dass sich gerade dort das zivilgesellschaftliche Engagement weiter entfaltet”.
Jährlich berät die Einrichtung rund 50 Gewalt-Opfer. Viele suchten erst viele Monate nach der Tat Hilfe, weil sie erst nach und nach merken würden, wie der Übergriff ihren Alltag belaste, sagt Seyb. Die Betreuung dauere oftmals viele Monate, manchmal sogar Jahre.
Als Beispiel für Letzteres nennt Seyb einen Studenten aus Kamerun, der vor einigen Jahren in der Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg von rund einem Dutzend mutmaßlichen Rechtsextremen zusammengeschlagen wurde. Der Student hatte lebensgefährliche Kopfverletzungen und lag monatelang im Krankenhaus.
Das “Zentrum für Demokratie” schätzt, dass ein großer Teil der organisierten Rechtsextremen in Schöneweide lebt. Die Einrichtung hat ihr Büro in der Michael-Brückner-Straße, gleich gegenüber vom Bahnhof Schöneweide. Die Kneipe “Zum Henker”, ein beliebter Treffpunkt von Neonazis, ist um die Ecke.
Tatorte an der Wand
Die drei Mitarbeiter des “Zentrums für Demokratie” engagieren sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Bezirk. Die 32-jährige Kati Becker arbeitet seit 2007 für das Zentrum. Zusammen mit ihren Kollegen veranstaltet sie Diskussionen und Veranstaltungen. Zudem führt die 32-Jährige ein Register, in dem rassistische, antisemitische, homophobe und rechtsextreme Vorfälle in Treptow-Köpenick dokumentiert werden.
Kati Becker schreibt auf, was Bürger melden – Schlägereien, Neonazi-Propagada auf Aufklebern, Schmierereien an Wänden. Sie will vor allem den Alltagsrassismus dokumentieren. “Subtile Formen der Diskriminierung”, wie sie sagt, die kaum angezeigt würden, weil sie zu geringfügig erscheinen.
Als Beispiel nennt sie Schmierereien wie “NS jetzt” auf der Scheibe des Büros der Linkspartei in der Brückenstraße, schräg gegenüber des Lokals “Zum Henker”. Ein anderes Mal warfen Neonazis im Einkaufszentrum Forum Köpenick Hetz-Flugblätter von einer Brüstung.
180 Vorfälle hat das Zentrum in diesem Jahr bereits aufgenommen. Das seien mehr als in den vergangenen Jahren, sagt Becker. Ob die Zahl der Vorfälle wirklich gestiegen sei, lasse sich aber nicht sagen. “Die Leute achten inzwischen mehr auf solche Fälle.”
Auch das “Zentrum für Demokratie” wurde schon angegriffen. “In diesem Jahr acht oder neun Mal”, sagt Becker. Die Wände des Büros würden permanent mit fremdenfeindlichen Parolen besprüht oder eingeschlagen. Inzwischen wurden Fenster aus bruchsicherem Glas eingebaut, Jalousien und Stahlgitter angebracht.
Anwohner für Aktionen gewinnen
“Schöneweide ist eine Herausforderung”, sagt auch Politologin Bianca Klose von der “Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin” (MBR). Es gebe aber noch viel mehr Orte in der Stadt, an denen im Alltag Rechtsextremismus oder Rassismus auftauchen würden. Klose ist Gründerin und Projektleiterin der MBR, die ihr Büro in der Chausseestraße in Mitte hat. Im Beratungsraum dort hängt ebenfalls eine Karte an der Wand, eingezeichnet ist der Bahnhof Schöneweide und seine Umgebung.
Klebezettel markieren besondere Orte: Treffpunkte von Neonazis oder Läden, die bei ihnen beliebte Marken vertreiben, die NPD-Zentrale ist aufgeführt und auch Standorte von verbotenen Vereinigungen wie “Frontbann 24”. MBR unterstützt Bürger, die über rechtsextreme Aktivitäten besorgt sind oder dagegen aktiv werden wollen. Vermittelt werden Ansprechpartner und Kontakte vor Ort.
Beispiel für die Arbeit ist ein prominenter Fall, der einige Jahre zurückliegt. Anfang 2008 zog ein Bekleidungsladen in ein Geschäft in Mitte ein, der die bei Neonazis beliebte Marke “Thor Steinar” verkaufte. “Viele Anwohner äußerten ihren Unmut über den Laden und seine Kunden”, sagt Klose. Man habe die Anwohner zusammenbringen können, um sich gemeinsame Aktionen zu überlegen. “Mit viel Einsatz konnten viele Engagierte erreichen, dass der Laden geschlossen wurde.”
Militante Szene
Jährlich veröffentlicht das vom Land Berlin finanzierte Netzwerk zusammen mit dem Antifaschistischen Pressearchiv die Broschüre “Berliner Zustände”, in denen die rechtsextremen Aktivitäten der Hauptstadt präsentiert werden. Die Aufregung nach dem Auftauchen der Zwickauer Terrorzelle kann Bianca Klose nicht nachvollziehen. “Wir weisen seit Jahren darauf hin, wie militant die rechte Szene ist.” Das Problem an der jetzigen Diskussion sei vor allem, dass sie die Sicht auf den täglichen Rassismus verdecke, sagt Klose.
An die Politik stellt sie die Forderung, dass die Menschen, die sich täglich gegen Rechtsextremismus einsetzen, besser geschützt und in ihrem Engagement anerkannt werden. Sie selbst habe schon Morddrohungen erhalten, ihr Name tauche auf Listen von einschlägigen Organisationen auf. “Menschen, die den Rechtsextremen entgegentreten und Gesicht zeigen, sind tagtäglich Gefahren ausgesetzt.”
Von Benedikt Paetzholdt