Die verbrannte Markise hängt in Fetzen herunter. Vor dem “Gemischtwarenladen für Revolutionsbedar” sind noch die schwarzen Brandflecken auf dem Boden sichtbar. Bis zum ersten Stockwerk des Wohnhauses schlugen die Flammen. “4.000 Euro Sachschaden”, sagt Ladeninhaber Hans-Georg Lindenau, der in seinem Rollstuhl vor dem linken Kultgeschäft M99 in der Manteuffelstraße sitzt. Sein Infoladen mit Polit-Shirts, Büchern und Armyklamotten ist ein Relikt aus Hausbesetzerzeiten und weit über Berlin hinaus bekannt. In der Nacht zum 27. Oktober zog eine Gruppe Neonazis von Neukölln bis nach Kreuzberg. Sie sprühten Parolen und NS-Symbole. Bei einem jungen Gewerkschafter, der in einem Prozess als Zeuge gegen einen Rechten ausgesagt hatte, hinterließen sie Morddrohungen an der Hauswand. Wenige Meter vom M99 entfernt schmierten sie ein verbotenes Keltenkreuz. Gegen 3 Uhr brannten dann die Außenregale des Ladens. Jetzt ermittelt der Staatsschutz. Die Bewohner im Kiez sind entsetzt. “Der Brandanschlag erfüllt mich mit großer Sorge”, sagte Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) und versicherte dem Geschäft seine Unterstützung.
Inszenierung als braune Straßenkämpfer
“Nach Kreuzberg zu kommen, um Feuer zu legen, das hätten die sich vor ein paar Jahren noch nicht getraut”, sagt Lars Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin (ALB). “Wer ein Haus anzündet, nimmt auch den Tod der Bewohner in Kauf.” Mit “die” meint er eine neue Generation von jungen, gewaltbereiten Neonazis. Sie nennen sich “Autonome Nationalisten”. Eine rechte Wortschöpfung, die als identitätsstiftender Sammelbegriff für “erlebnisorientierte” und besonders aggressive Rechte dient. Das Durchschnittsalter in diesem Teil der Szene liegt bei 20 Jahren. Sie kleiden sich ganz in schwarz, tragen Turnschuhe, Kapuzenpullover und Piercings. Sie bewundern den radikalen Gestus der linksradikalen Bewegung und versuchen, sich nach Außen modern und cool zu geben. Für Laien ist es kaum noch möglich, einen Neonazi auf Anhieb zu erkennen. Das in den 90er Jahren geprägte Bild vom Naziskinhead mit Bomberjacke und Springerstiefeln gibt es heute nicht mehr.
Rückblick. Es ist der 1. Mai dieses Jahres. Die NPD hat einen Großaufmarsch in der “Reichshauptstadt” angekündigt. Bis zu 1.000 Neonazis aus ganz Deutschland werden erwartet. Sie wissen, dass sie vermutlich nicht marschieren können. Zu stark sind die Proteste. Von linken Ökos bis Prenzlauer Berg-Familien, von Antifa bis SPD – Tausende blockieren friedlich die Route.
Plötzlich eine Nachricht, die die Polizei nervös werden lässt: Rund 300 Neonazis aus Berlin und Brandenburg sind auf dem Weg zum Aufmarsch aus der S-Bahn ausgestiegen und stürmen über den Kurfürstendamm. Sie rufen Parolen, prügeln auf Polizisten ein und greifen Passanten mit dunkler Hautfarbe an. Erst nach 15 Minuten sind genug Beamte vor Ort, um den Mob zu stoppen. Bei der Festnahme der 286 Personen finden die Einsatzkräfte Schlagstöcke, Pfefferspray, Feuerwerkskörper und ein Messer. Gegen alle Beteiligten wird wegen Landfriedensbruch ermittelt. Es stellte sich heraus, dass die Aktion von langer Hand geplant war: Per Email hatten die Organisatoren genaue Routen der angeblichen “Spontandemo” an Führungskader verschickt. Und noch ein beunruhigendes Detail wird erst Monate später bekannt: Ein Neonazi hatte versucht, mehrere selbstgebaute und mit Scherben versetzte Sprengsätze zum Aufmarsch nach Prenzlauer Berg zu bringen. Er sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Im Internet feierte die Szene den „Marsch der 300“ am Ku’damm trotzdem als erfolgreiche neue Strategie.
Tatsächlich zeigt der Tag, dass die Berliner Naziszene am Boden liegt. Großaufmärsche, mit denen die Rechten hoffen, die Bevölkerung zu erreichen, sind kaum durchführbar. Zu gut ist die Zivilgesellschaft vernetzt, zu wenig fruchtbaren Boden finden die rassistischen Parolen in der Stadt. Viele ältere Führungskader sitzen im Gefängnis. Der junge Nachwuchs konzentriert sich aufgrund mangelnder Wahlerfolge auf die so genannte „Anti-Antifa-Arbeit“ und schreckt dabei auch nicht vor Gewalt zurück. Systematisch sammeln die „Autonomen Nationalisten“ Adressen und Bilder von missliebigen Journalisten, Gewerkschaftern und politischen Gegnern.
„Die Neonazis, die bei Prozessen die Namen und Anschriften von Nazigegnern ausspähen und Fotos machen, sind bekannt“, sagt ALB-Sprecher Laumeyer. Auch wer hinter der Internetseite steckt, auf der regelmäßig Namen der Gegner veröffentlicht werden, ist kein Geheimnis: Der Rechtsextremist Sebastian Schmidtke war früher führendes Mitglied der militanten Kameradschaft „Märkischer Heimatschutz“ und hat viele Aufmärsche in Berlin angemeldet. Inzwischen ist er stellvertretender Landesvorsitzender der NPD. Seine Politkarriere zeigt, wie eng die militante Szene mit der NPD verknüpft ist. Auch die Adresse vom M99 wird auf der Seite indirekt als gutes Anschlagziel genannt. Trotz mehrfacher Hinweise und einer Anfrage der Grünen im Abgeordnetenhaus hat die Justiz den im Ausland stehenden Server bis heute nicht abschalten können.
NPD im Abseits
“Diese nächtlichen Anschläge und Schmierereien verhelfen den Tätern mit verhältnismäßig geringem Organisationsaufwand zu großer medialer Präsenz”, sagt Bianca Klose. Sie ist die Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, die im Auftrag des Senats die rechte Szene beobachtet und die Bezirke berät. Auch Klose wird immer wieder im Internet massiv bedroht. In den Einschüchterungsversuchen sieht sie ein Zeichen für die personelle Schwäche der Rechten. Besonders deutlich zeigt die sich bei der Berliner NPD. Auf 250 Mitglieder ist der
Landesverband in den letzten Jahren geschrumpft. Parteiinterne Machtstreitigkeiten führten zu einer Austrittswelle. Zudem fehlt es an charismatischen Führungspersonen. Im Februar wurde ein neuer Landesvorsitzender gewählt: Uwe Meenen, ein “ideologisch gefestigter Neonazi mit tief verwurzeltem Antisemitismus”, wie es im Verfassungsschutzbericht heißt. Große Ausstrahlung auf die jungen, aktionistischen Neonazis hat der blasse, schwarzhaarige Bekannte von Holocaustleugner Horst Mahler nicht.
Derzeit sitzen NPD-Mitglieder in den Bezirksverordnetenversammlungen von Lichtenberg, Marzahn-Hellersorf, Treptow-Köpenick und Neukölln. Viele rhetorisch wenig begabte NPDler schaffen es kaum, drei gerade Sätze auf dem Podium vorzutragen. Das Erfolgsrezept der demokratischen Parteien ist einfach: Die NPD wird politisch in den Rathäusern isoliert, ihre Anträge grundsätzlich gemeinsam abgelehnt. Danach begründet fraktionsübergreifend immer nur ein Abgeordneter im Namen aller Parteien die Ablehnung. „Damit wird der rechtsextreme Charakter der NPD aufgezeigt und verhindert, dass sie sich als Opfer inszenieren kann“, sagt Klose.
Auch was rechtsextreme Infrastruktur angeht, sieht es für die „Kameraden“ schlecht aus. Anders als früher wohnt der harte Kern nicht mehr in Hochburgen, wie um die Weitlingstraße in Lichtenberg, sondern über die ganze Stadt verteilt. Mit dem Bekleidungsgeschäft „Harakiri“ hat im Februar der letzte offizielle Naziladen in Prenzlauer Berg geschlossen. Der bei Rechten beliebte Thor Steinar-Laden in Mitte wird bald zwangsgeräumt und das zweite Geschäft in Friedrichshain wurde gekündigt.
Nazi-Homezone in Schöneweide
Derzeit gibt es nur noch zwei zentrale Nazi-Treffpunkte, in denen auch Veranstaltungen durchgeführt werden: die NPD-Bundesgeschäftsstelle in Köpenick und die Kneipe „Zum Henker“ in Schöneweide. „Der Henker fungiert im Gegensatz zur NPD-Zentrale auch als sozialer Treffpunkt, um Nachwuchs zu rekrutieren und die eigene Arbeit zu verstetigen“, sagt Kati Becker vom Zentrum für Demokratie Treptow-Köpenick. Bei Saufgelagen und Parties könnten ältere Kader Kontakte zu Jüngeren knüpfen, die dann zur nächsten Politveranstaltung in den selben Räumen eingeladen werden. Den Bereich um den „Henker“ betrachten die Neonazis als „szeneeignes Territorium“ in dem sie machen können, was sie wollen. Doch außerhalb von Schöneweide fehlen solche Räume und auch der „Henker“ ist Ziel von Protesten: Im April wurde die Fassade mittels rosa Farbbeuteln „umgestaltet“. Schon lange träumen die Rechten deshalb von einem „Nationalen Jugendzentrum“ für Konzerte, Schulungen und Kneipenbetrieb in der Innenstadt. Erst im August warnte der Verfassungsschutz Hausbesitzer in Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und Neukölln. Es gebe aus dem Neonazispektrum „aktuell konkrete Bemühungen, kleinere bis mittlere Immobilien für entsprechende Zwecke zu mieten, zu pachten oder sogar zu kaufen“. Dabei würden die Rechten als Privatpersonen auftreten oder sich als sozial engagierter Verein tarnen.
111 rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Angriffe hat die Opferberatungsstelle ReachOut allein im Jahr 2009 gezählt. Mehr als 150 Menschen wurden dabei verletzt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich um einiges höher. „Manche Opfer melden einen Angriff aus Angst vor den Tätern nicht oder leben illegal hier und haben Angst, abgeschoben zu werden“, sagt Helga Seyb von ReachOut. Was kaum jemand weiß: Am häufigsten schlagen die Täter ausgerechnet im Ausgehbezirk Friedrichshain zu. „Hier gibt es wichtige Umsteigebahnhöfe und im Bezirk bewegen sich potenzielle Opfergruppen wie Punks oder alternative Jugendliche“, sagt Seyb. In den Jahren 2007 und 2008 gab es derart viele Übergriffe in Friedrichshain, dass ReachOut eine Grafik mit den Tatorten im Internet veröffentlicht hat. Die ist übersäht mit Orten der Gewalt.
Auch ohne rechte Großaufmärsche gibt es weiter Bedarf an öffentlicher Gegenwehr: Am 20. November werden wieder tausende Menschen zu der jährlichen Gedenkdemonstration für Silvio Meier erwartet. „Ein Zeichen der Solidarität mit allen Opfern neonazistischer und rassistischer Gewalt“ wollen die Organisatoren setzen. Der Hausbesetzer Silvio Meier wurde am 21. November 1992 von Naziskinheads erstochen – mitten im heutigen Partykiez in Friedrichshain.
Hilfe für Opfer rechter Gewalt
Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus
Aktuelle Infos zu Neonazis in Berlin
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Von Johannes Radke