(16.08.2007) Mut gegen rechte Gewalt-Portal

Wobei die Bezeichnung „Broschüre“ fast schon eine Beleidigung ist für die 113-Seiten-Publikation mit dem Titel „Integrierte Handlungsstrategien zur Rechtsextremismus-Prävention und –Intervention bei Jugendlichen. Hintergrundwissen und Empfehlungen für Jugendarbeit, Kommunalpolitik und Verwaltung.“ Sie hat nämlich nicht nur die Stärke eines Buches, sondern enthält auch eine ebenso große Erkenntnisdichte, wie der Titel vermuten lässt.

Inhaltliche Einführung

Die Broschüre beginnt mit einem inhaltlichen Teil, der präzise verknappt einen Einblick gibt in die Themen des Rechtsextremismus, deren Kenntnis für Jugendarbeiter nötig ist, um rechtsextreme Orientierungen erkennen und ihnen begegnen zu können: Wie sehen rechtsextreme Erlebniswelten derzeit aus? Welche Rolle spielen Musik, Kleidung, Internet, Szeneläden? Wie arbeiten Kameradschaften, wie versuchen sie Mitglieder zu werben? Und welche Weltbilder stecken hinter rechtsextremer Ideologie?

Welche Strategien und Methoden gibt es?

Noch interessanter, weil einzigartiger, ist der zweiten Teil der „Integrativen Handlungsstrategien“: Hier geht es um einen Überblick von Strategien und Methoden im Umgang mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen, in dem viele praxisrelevante Fragen erläutert werden. Es beginnt mit Grundsätzlichem für die sozialpädagogische Praxis, etwa der Frage, was eine „demokratische Werteorientierung“ im wirklichen Leben bedeutet und wie Institutionen oder sogar ganze Bezirke oder Regionen für sich einen an den Menschenrechten orientierten Minmalkonsens erarbeiten können, der allen mit rechten Jugendlichen Arbeitenden Orientierung bietet. Danach sollte für alle klar sein, dass etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit seine Grenze da hat, wo dasselbe Grundrecht anderer verletzt wird – was etwa Rechtsextreme tun, wenn sie den Bewegungsspielraum nicht-rechter Jugendlicher einschränken oder angreifen.

Mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen arbeiten

Danach widmet sich die Broschüre der Präventions- und Interaktionsarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen. Die Autoren erklären leicht verständlich und mit Checklisten, welche Voraussetzungen diese Arbeit hat: qualifiziertes Personal, das sich klare normative Ziele setzt, Beziehungsarbeit professionell organisiert und die Jugendlichen bezüglich ihrer Verbundenheit mit der rechtsextremen Szene realistisch und differenziert einschätzt.

Dann geht es um anwendbare Methoden für diese Arbeit: Neben insgesamt pädagogisch „üblichen“ Methoden wie Sport- und erlebnispädagogischen Angeboten, medienpädagogischen Veranstaltungen und Theater- oder handwerklichen Projekten mit konzeptioneller Ausrichtung auf die rechtsextrem-orientierten Jugendlichen legen die Autoren das Augenmerk auf die Wichtigkeit geschlechterreflektierender Arbeit in diesem Arbeitsfeld – oft werden rechtsextrem orientierte Mädchen noch schlicht übersehen – und Möglichkeiten der Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die hilft, die Jugendlichen dabei zu unterstützen, ihre Orientierung zu hinterfragen und als selbstschädigend zu erkennen. Das können Argumentationsstrategien sein, wie sie in der interkulturellen oder antirassistischen Bildungsarbeit entwickelt worden sind, oder subversive Verunsicherungspädagogik. Bei der Auseinandersetzung mit Vorurteilen, populistischen rechtsextremen Forderungen oder aktuellen Problemen der rechtsextrem orientierten Jugendlichen reicht die Palette von schlichten Kommentare im Alltag über Trainings mit externen Fachleuten bis zu Gedenkstättenfahrten oder einem interkulturellen Austausch.

Wann die Arbeit scheitert

Zum Schluss gibt es Empfehlungen für die Jugendarbeit, wenn die sozialpädagogische Arbeit gescheitert sein sollte. Da sich Wissenschaft und Praxis einig sind, dass gefestigte und organisierte Rechtsextreme durch pädagogische Arbeit nicht mehr zu erreichen sind, müssen sich Jugendeinrichtungen mit dem Thema auseinandersetzen, wie sie nicht-rechte oder nur rechtsextrem-orientierte Jugendliche vor Aktivistinnen und Kadern schützen können.

Stärkung demokratischer Jugendkulturen

Als ebenso ist für die Autoren der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin die Förderung alternativer, emanzipatorischer und progressiver Jugendkulturen – damit es eine attraktive Alternative zum Programm der Rechtsextremen gibt. Deshalb widmet sich das nächste Kapitel der praktischen Frage, wie diese Förderung aussehen kann. Das Spektrum reicht von der Bereitstellung der räumlichen und organisatorischen Möglichkeiten – wie Bandproberäumen, Flächen für Sprayer oder dem Veranstallten von Festivals – über die Frage, wie man Jugendlichen Mitbestimmung und Teilhabe und damit Demokratie praktisch nahe bringt. Was etwa mit fairen Aushandlungsprozessen für die Regeln in der Einrichtung beginnt und über Selbstgestaltung von Räumen bis zur Anregung gehen kann, aktiv zu werden und sich etwa mit einem persönlichen Anliegen an Kommunal- oder Landesverterter zu wenden.

Vernetzung von Politik, Jugendarbeit und Zivilgesellschaft

Zum Abschluss wird das Thema der Vernetzung diskutiert: Es wird aufgezeigt, wie Politik Jugendarbeit unterstützen kann – etwa durch eine klare öffentliche Positionierung zum Thema Rechtsextremismus, der Verabschiedung einheitlicher fachlicher Standards oder Sensibilisierung fürs Thema durch Kommunalanalysen oder Lokale Aktionspläne. Auch zivilgesellschaftliche Initiativen tragen zum Erfolg der Jugendarbeit bei, wenn sie etwa gegen rechtsextreme Kneipen und Szeneläden mobil macht, über Angsträume aufklärt und schließlich dazu beitragen, den öffentlichen Diskurs und das soziale Klima gerade dort zu beeinflussen, wo Rechtsextreme bereits eine gewisse Relevanz erreicht hatten. Denn die können die Neonazis nur unwidersprochen halten, wenn sie sich in der (schweigenden) Mehrheit wähnen.

Nicht gegeneinander, miteinander!

Ingesamt kommt die Broschüre zu dem Fazit, dass Arbeit gegen Rechtsextremismus nur auf vielfältige Weise erfolgreich sein kann und das viele oft gegensätzlich diskutierte Ansätze wirklich sinnvoll nur dann wirken können, wenn sie ineinander greifen: Arbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen, die systematische Stärkung der Attraktivität demokratischer Jugendkulturen, zivilgesellschaftliches Engagament und klare Zeichensetzung der Politik. Die Wege dorthin sind nach der Lektüre der „Integrierten Handlungsstrategien“ schon um einiges klarer.

(Simone Rafael)

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