(16.06.2007) Neues Deutschland

Am Donnerstagabend schilderten erstmalig fünf Fachprojekte gemeinsam ihre Perspektive auf die Entwicklung des Rechtsextremismus in Berlin. Auf 50 Seiten wurden in der Schrift »Berliner Zustände. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Diskriminierung« die Analysen der vor Ort aktiven Gruppen gebündelt vorgestellt. Mitgeschrieben haben die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR), das Antifaschistische Pressearchiv (Apabiz), die Opferberatungsstelle Reach Out, die Netzwerkstelle Mosquito und das Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes.

»Das ambitionierte Projekt«, erläuterte Ulli Jentsch vom Apabiz, habe insgesamt ein halbes Jahr in Anspruch genommen und sei »die logische Konsequenz aus der Arbeit der Gruppen mit den Themen Antifaschismus, Antirassismus und Antisemitismus« gewesen. Die Publikation sei jedoch trotz Chronik, die die inhaltlichen Beiträge ergänzt, »mehr als ein alternativer Verfassungsschutzbericht«. Auch die Erwartung, ein »Schattenbericht« decke lediglich im Gegenzug zu den offiziellen Zahlen Verborgenes auf, sei nur zum Teil richtig. Vielmehr habe man versucht, Analysen und Perspektiven zu erarbeiten, »die auch das laufende Jahr einbeziehen und Zusammenhänge aufzeigen«, so Ulli Jentsch.

Die Unterschiede zu den Zahlen der Polizei und denen des »Schattenberichts« stechen dennoch hervor. Obwohl auch die offizielle Statistik einen Anstieg auf 110 Gewaltdelikte von Rechts für 2005 verzeichnete – ein dramatischer Anstieg von mehr als 100 Prozent zum Berichtsjahr 2005, wo 52 solcher Angriffe gezählt wurden –, zählte Reach Out noch mehr rechtsextreme Übergriffe.
»Wir haben insgesamt für 2006 155 Gewalttaten verzeichnet«, berichte Sabine Seyb von der Opferberatung. Im Vorjahr seien es 116 gewesen. Die Diskrepanz zur Polizei hängt vor allem damit zusammen, dass Reach Out auch Angriffe dokumentiert, die nicht zur Anzeige gebracht werden. So oder so ist die Tendenz bei beiden Zählweisen dieselbe: Rechtsextreme Straßengewalt und rassistische Angriffe haben in Berlin 2006 extrem zugenommen.

Ein genauerer Blick, wo denn die Gewalt stattfand, förderte im Vergleich zu älteren Analysen Erstaunliches zutage. »Es sind nicht die viel beschworenen Ostberliner Außenbezirke, wo die Angriffe geschehen, sondern die Innenstadtbezirke Prenzlauer Berg und Friedrichshain«, sagte Seyb. Allein in Friedrichshain habe man 50 Übergriffe gezählt. Besonders an Bahnhöfen und Verkehrsknotenpunkten seien Attacken, deren Opfer vor allem Migranten und Linke waren, zu verzeichnen gewesen.
Der »Schwerpunkt Friedrichshain« erkläre sich, so Seyb, aus dem Vorhaben organisierter Rechtsextremer von »Freien Kameradschaften« und NPD, in dem als alternativ geltenden Bezirk Fuß zu fassen. »Dort wurde regelrecht Jagd auf Linke gemacht«, erklärte Sabine Seyb. Dass die Zahlen in den Außenbezirken gesunken seien, führte Seyb hingegen auch auf den vorsichtigen Umgang der Opfer mit der Bedrohung zurück. »Die es treffen könnte, bewegen sich vorsichtig«, sagte sie.
Die Autoren beschrieben auch Merkmale der Täter, zu denen nicht nur Organisierte zu zählen seien. Besonders Migranten seien oftmals Opfer von »normalen Rassisten« geworden, beobachtete Reach Out. »Die Hautfarbe und das Geschlecht spielen eine große Rolle, ob man angegriffen wird«, bestätigte Florencio Chicote vom Antidiskriminierungsnetzwerk. Wobei Diskriminierungen für viele Migranten bereits bei Behördengängen oder in Supermärkten beginnen würden. Vor allem religiöse Zuschreibungen lösten immer mehr Diskriminierungen aus.
Die Erfahrung, wie weit rassistische vermischt mit religiösen Vorurteilen bis in die Mitte der Gesellschaft reichen, beschrieb die Netzwerkstelle Mosquito anhand des Moscheebaus in Pankow-Heinersdorf. Nicht zuletzt erläuterte die MBR die Strategien der NPD. Deren Präsenz in drei Bezirksparlamente dürfte ein Schwerpunkt 2007 sein.

(Martin Kröger)

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