MBR-Einschätzung zum geplanten Reichsbürger-Aufzug am 9. November im Regierungsviertel

Am 81. Jahrestag der antisemitischen Novemberpogrome vom 9. November 1938 planen rechtsextreme Splittergruppen Versammlungen in Berlins Innenstadt. Derzeit sind der MBR Aufrufe von drei Zusammenschlüssen zu unterschiedlichen Veranstaltungen bekannt. Die Reichsbürgergruppierung „staatenlos.info“ will ab 11 Uhr vom Lustgarten einen Aufzug unter dem Motto „Heimat und Weltfrieden“ durchführen. Sie werden dabei von den sog. „Gelben Westen Berlin“, die zunächst eine eigene Veranstaltung angemeldet hatten, unterstützt.

Eine ursprünglich von der Kleinstgruppierung „Patriotic Opposition Europe“ um den Rechtsextremen Eric Graziani geplante zusätzliche Kundgebung am Brandenburger Tor wurde zwischenzeitlich ebenfalls wieder abgesagt. Graziani moderierte zuletzt den rechtsextremen Aufmarsch von „Wir für Deutschland (WFD)“ am 03. Oktober. [1] Hintergrund der Absage ist eine Allgemeinverfügung der Berliner Polizei, die wegen der Feierlichkeiten zum Mauerfall an diesem Tag Versammlungen im Bereich Pariser Platz und in Teilen der Wilhelmstraße untersagt. [2]

Die Aufrufenden

Die Kleinstgruppe „staatenlos.info“ ist ein Zusammenschluss von Anhänger_innen der Reichsbürgerideologie um den ehemaligen NPD-Kader Rüdiger Hoffmann (ehemals Klasen). Hoffmann war in den 1990er Jahren wegen versuchten Mordes in Haft, weil er einen Angriff mit Molotow-Cocktails auf eine Flüchtlingsunterkunft mitorganisiert haben soll, wie verschiedene Medien berichten. [3] „Staatenlos.info“ fällt vor allem durch seine fast täglichen Kleinstkundgebungen vor dem Reichstagsgebäude auf, an der sich selten überhaupt eine zweistellige Teilnehmer_innenzahl einfindet. Diese Kundgebungen haben eher den Charakter eines Informationsstandes, mit mehreren bedruckten Planen und unregelmäßig Redebeiträgen von Hoffmann.

Inhaltlich vertritt die Gruppe typische Versatzstücke einer antidemokratischen und durch Verschwörungserzählungen geprägten Reichsbürgerideologie. Laut der Internetseite von „staatenlos.info“ habe sich die „parlamentarische Demokratie […] von Anfang an nicht bewährt“ und sei „für die gesamte Menschheit untragbar.“ Ihrer Ansicht nach ist die Bundesrepublik eine „zu privat- kommerziellen Firmen vollprivatisierte Treuhandverwaltung“ auf dem Boden des angeblich weiterhin existierenden Deutschen Reichs. Zum Thema Antisemitismus verweist der Internetauftritt der Gruppe auf einen Blog, in dem die Novemberpogrome auf antisemitische Weise in eine „zionistisch / bolschewistische“ Verschwörung gegen das deutsche Volk umgedeutet werden, die auf einen Zusammenbruch der deutschen Versicherungsbranche abgezielt hätte.

Mit dem Aufkommen der Gelbwestenbewegung in Frankreich Ende 2018 entstand in Berlin ein rechtsextremer Zusammenschluss mit dem Namen „Gelbe Westen Berlin“. Deren Versammlungen erhielten von Anfang an wenig Zulauf und ihre Protagonist_innen suchten schnell die Nähe zu den Reichsbürgern von „staatenlos.info“. Zuletzt führten beide Gruppierungen ihre gemeinsamen Versammlungen immer wieder zusammen mit anderen Akteuren der rechtsextremen Szene durch, unter anderem mit „Patriotic Opposition Europe“. [4]

Treibende Kraft hinter „Patriotic Opposition Europe“ ist Eric Graziani, ein rechtsextremer Aktivist mit Profilierungsdrang. Unter wechselnden Labels bzw. Gruppierungen sowie mit regelmäßigen Videos in sozialen Netzwerken und Auftritten als Redner bei rechtsextremen Versammlungen, vor allem aus dem Milieu des islamfeindlichen Rechtsextremismus, aus dem er stammt, tritt er seit wenigen Jahren in Erscheinung. Ein Bericht von Berlin Rechtsaußen schilderte eine seiner Reden bei einer „Merkel muss weg“-Demonstration in Berlin 2016:

„Er arbeitete sich zunächst an den üblichen rechten Feindbildern ab: den ‚linken Propagandisten der deutschen Wochenschau von heute‘, den ‚Volksverrätern‘ und Merkel, die ‚ihr Volk in den Genozid treibt‘ sowie den ‚Rothschilds‘, die ‚in der Führungsebene sitzen und Europa in ein Chaos der Verwüstung und der Bürgerkriege stürzen.‘ Gegen diesen prophezeiten Untergang sei er bereit zu kämpfen und ‚Opfer zu bringen‘, bis hin zum Tod: ‚Selbst mein Leben wäre mir nicht zu schade, es herzugeben, für die Freiheit unserer Kinder und vor allem für ein freies und souveränes Deutschland.‘ Grazianis Rhetorik ist idealtypisch für den aktuellen völkischen Duktus, der sich aufgrund einer apokalyptischen Prophezeiung zum Widerstand nicht nur legitimiert, sondern gar verpflichtet sieht. Wie auch schon in seiner Rede bei der ersten Demonstration folgte ein geschichtsrevisionistischer Exkurs ‚in Gedenken‘ an die ‚vergessenen Opfer‘, die Vertriebenen und die ‚eine Million deutscher Opfer, die durch die Willkür und die Rache, der Greueltaten und des blindes Hasses seitens der Alliierten‘ 1945 in den Rheinwiesenlagern ihr Leben lassen mussten. Auch diese Passage, mit einer völlig aus der Luft gegriffenen Opferzahl wurde von den Anwesenden mit Jubel und Beifall beantwortet.“ [5]

Mobilisierungspotential

Das Spektrum, das aktuell zum 9. November nach Berlin aufruft, wirbt regelmäßig bei seinen Veranstaltungsankündigungen mit diversen Unterstützergruppen und Mitaufrufenden, um eine vermeintliche Breite der Mobilisierung zu suggerieren. Real weisen vergangene Veranstaltungen allerdings darauf hin, dass maximal Teilnehmende im unteren dreistelligen Bereich zu erwarten sind.

Informationen zu möglichen Gegenprotesten gibt es bei unserem Partnerprojekt Berlin gegen Nazis.

[1] https://www.bnr.de/artikel/aktuelle-meldungen/aggressive-melange-der-rechten-spektren

[2] Amtsblatt für Berlin Nr. 43, S. 6409, https://www.berlin.de/landesverwaltungsamt/_assets/logistikservice/amtsblatt-fuer-berlin/abl_2019_43_6401_6552_online.pdf

[3] https://taz.de/!1621421/ & https://www.tagesspiegel.de/berlin/gekaperte-proteste-in-berlin-aussen-gelbweste-innen-reichsbuerger/23911796.html

[4] https://berlin-gegen-nazis.de/kundgebung-von-rechtsextremen-am-brandeburger-tor/, https://www.mbr-berlin.de/aktuelles/mbr-einschaetzung-zum-geplanten-rechtsextremen-tag-der-nation-am-3-oktober/ & https://berlin-gegen-nazis.de/kundgebung-von-reichsbuergern-und-rechtsextremen-am-pariser-platz/

[5] https://rechtsaussen.berlin/2016/05/die-herren-in-deutschland-sind-immer-noch-wir/