Für kommenden Samstag rufen erneut Akteur_innen aus verschwörungsideologischen Milieus zu mehreren Aktionen in Berlin auf. Zudem ist ein rechtsextremer Aufzug durch das Regierungsviertel angemeldet.
Seit Ende März mobilisieren unterschiedliche Akteur_innen aus verschwörungsideologischen Milieus zu Versammlungen in Berlin gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Durchgängig wurden dabei Personen mit rechtsextremen, antisemitischen und anti-demokratischen Schildern und Äußerungen vor Ort widerspruchsfrei geduldet. In den vergangenen Wochenenden ist eine Abnahme der Teilnehmer_innenzahlen zu beobachten. Dies kann auch als Erfolg der vielfältigen Proteste seitens demokratischer zivilgesellschaftlicher Akteur_innen gewertet werden.
Es kann zudem angenommen werden, dass sich viele der Teilnehmenden der ersten Wochen mit den inzwischen vielfach dominierenden rechtsextremen Inhalten und Personen sowie den Inszenierungen einiger verschwörungsideologischer Akteur_innen vor Ort nicht gemein machen wollen und daher fernbleiben. Hinzu kommt, dass die gegenwärtigen Lockerungen der Maßnahmen wohl zum Rückgang der Attraktivität der Veranstaltungen beitragen.
Allerdings kann keine Entwarnung gegeben werden: Vielmehr war festzustellen, dass zunehmend organisierte Personen aus rechtsextremen und rechtspopulistischen Strukturen und Parteien oder mit gefestigtem verschwörungsideologischem Weltbild bei den Veranstaltungen dominierten – darunter vereinzelt auch Personen, die in der Vergangenheit durch Gewalttaten auffällig geworden sind. Zudem kursierten insbesondere in den sozialen Medien diverse Aufrufe zu Kundgebungen oder „Spaziergängen“ an verschieden Orten in der Berliner Innenstadt. In der Folge ergaben sich mehrfach unübersichtliche Situationen, die als Flickenteppich von zahlreichen kleineren und häufig unangemeldeten Veranstaltungen ohne erkennbare Organisationsstrukturen zu beschreiben sind. Organisierte Rechtsextreme folgten vielen dieser Aufrufe. Die MBR veröffentlichte in der Vergangenheit regelmäßig Einschätzungen zu den rechtsoffenen Versammlungen, zuletzt am 29. Mai 2020.
Rechtsoffenes verschwörungsideologisches Milieu
Für kommenden Samstag kursiert ein gemeinsamer Aufruf der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW), „Widerstand 2020“, „Corona Rebellen“ und vergleichbarer Gruppierungen zu einer „Großdemonstration“ um 14 Uhr an der Siegessäule. Eine entsprechende Kundgebung ist von 14 bis 17 Uhr unter dem Motto „Friede, Freiheit, Wahrheit“ angemeldet. Aus dem gleichen Spektrum wird zudem ein „Spaziergang“ vom Neptunbrunnen am Alexanderplatz ab 14 Uhr beworben, der von dort um 15 Uhr zur Siegessäule ziehen soll. Diese Veranstaltung ist für 200 Personen angemeldet. Die bisher angemeldete Route dieser Veranstaltung ist aufgrund mehrerer Anmeldungen in diesem Bereich derzeit noch unklar.
KDW mobilisierte seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie jeden Samstag zu unangemeldeten Kundgebungen, sogenannten „Hygienedemos“ auf den Rosa-Luxemburg-Platz, die sich äußerlich gegen die Einschränkungen im Zuge der Eindämmungsmaßnahmen richteten. Schon damals bezog sich die Initiative auf Darstellungen diverser sogenannter „Alternativmedien“, die Verschwörungserzählungen zum Coronavirus verbreiteten. Ebenso hatten die Proteste von Beginn an einen rechtsoffenen Charakter, da rechtsextreme Personen und entsprechende Äußerungen ohne Widerspruch der übrigen Teilnehmenden akzeptiert wurden.
In den vergangenen Wochen bildete sich ein verschwörungsideologisch geprägtes Milieu von Corona-Leugner_innen heraus, dass sich zunehmend von den Aktionen des KDW am Rosa-Luxemburg-Platz loslöste. Reichweitenstarke Einzelpersonen, neue Labels wie „Corona Rebellen“ oder „Widerstand 2020“ sowie anonyme Accounts in Sozialen Medien verbreiteten zunehmend eigene Aufrufe bzw. organisierten eigene Veranstaltungen. Dabei war in den letzten Wochenenden neben sinkenden Teilnehmer_innenzahlen auch eine Zersplitterung der Proteste sowie eine Zunahme gewaltbereiter Rechtsextremer und ein insgesamt aggressives Auftreten der Teilnehmenden zu beobachten.
Offenbar ist die für Samstag angekündigte gemeinsame „Großdemonstration“ an der Siegessäule der Versuch, dieses Milieu wieder geeint auf der Straße zusammenzubringen. Dennoch plant der Vegankoch Attila Hildmann, unterstützt durch ein reichenweitenstarkes „Alternativmedium“ parallel zur „Großdemo“ einen Autokorso, der ab 13 Uhr am Olympiastadion beginnen und im Lustgarten vor dem Alten Museum um 15 Uhr mit einer Kundgebung fortgeführt werden soll.
Kennzeichnend für dieses verschwörungsideologisch geprägte Milieu sind nicht nur die Verharmlosung der Corona-Pandemie, sondern auch regelmäßig unwidersprochene NS- und Shoah-relativierende Äußerungen sowie diverse antisemitisch codierte Verschwörungserzählungen. Die aktuellen Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Pandemie und das polizeiliche Handeln gegenüber den Protestansammlungen wurde wiederkehrend mit der Politik im Nationalsozialismus verglichen. Diese Analogie zwischen den Eindämmungsmaßnahmen und der NS-Diktatur waren bereits seit Ende März fester Bestandteil der Berichterstattung von Vertreter_innen rechter „Alternativmedien“ und rechtsextremer Internetaktivisten. Bezüglich temporärer Grundrechtseinschränkungen wurden zudem Vergleiche mit der Situation in der DDR gezogen.
Verstärkte Verbreitung finden zudem Erzählungen um eine vermeintliche Unterwanderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch die „Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung“, unterstellte geplante „Zwangsimpfungen“ und die angebliche Errichtung einer „New World Order“ (NWO), gegen die ein abstrakter „Widerstand“ mobilisiert werden soll.
Bei den sich versammelnden Personen handelt es sich weiterhin um ein diffuses Spektrum. Jedoch war zu beobachten, dass der Anteil der Personen, deren Protest sich vor allem gegen die Grundrechtseinschränkungen richtete, zunehmend abhnahm. Äußerungen zu Grundrechtseinschränkungen und plakative positive Bezüge auf das Grundgesetz waren schon in den Vorwochen immer deutlicher in den Hintergrund getreten. Mittlerweile scheinen vor allem überzeugte Anhänger_innen von Verschwörungsideologien die Ansammlungen zu dominieren.
Aufgrund der von Beginn der Kundgebungen an nicht vollzogenen Abgrenzung konnten Rechtsextreme und Menschen mit offensichtlich den Nationalsozialismus oder die Shoah relativierenden Schildern und Botschaften die Protesten seit Wochen zunehmend für sich nutzen. Auch für das kommende Wochenende bewerben rechtsextreme Aktivist_innen wie der „Volkslehrer“ die Proteste. Die rechtsextreme Kleinstpartei „Der III. Weg“ kündigt sich zudem für kommenden Samstag „mit großer Gruppenstärke und noch mehr Dynamik“ in Berlin an.
Rechtsextremer Aufzug im Regierungsviertel
Unweit der angekündigten Versammlung an der Siegessäule plant der rechtsextreme Aktivist Eric Graziani zudem eine eigene Veranstaltung unter seinem Label „Patriotic Opposition Europe“. Von 12:30 bis 16 Uhr ist ein Aufzug für 200 Personen beginnend am Pariser Platz angemeldet (Genaue Routenangaben auch mit kurzfristigen Änderungen beim Partnerprojekt Berlin gegen Nazis).
Unter wechselnden Labels bzw. Gruppierungen sowie mit regelmäßigen Videos in sozialen Netzwerken und Auftritten als Redner bei rechtsextremen Versammlungen, vor allem aus dem Milieu des islamfeindlichen Rechtsextremismus, aus dem er stammt, tritt Eric Graziani seit einigen Jahren in Erscheinung. Er hat in den vergangenen Wochen regelmäßig an Protesten des oben genannten verschwörungsideologisch geprägten Milieus, aber auch bei rechtsextremen Versammlungen außerhalb Berlins teilgenommen und warb dabei für seine Veranstaltung. In der Vergangenheit waren zu Veranstaltungen der „Patriotic Opposition Europe“ am Brandenburger Tor nur eine zweistellige Zahl von Teilnehmenden erschienen. Im Kontext der Proteste des verschwörungsideologisch geprägten Milieus im näheren Umfeld könnte am kommenden Samstag auch erstmals auch eine höhere Anzahl an Besucher_innen erscheinen.
Mit Teilnehmenden aus dem Bundesgebiet muss daher gerechnet werden. Darauf deuten auch die ankündigten Redner_innen hin.So werden mehrere Personen aus Baden-Württemberg beworben, darunter mit Stefan Räpple ein Landtagsabgeordneter, der im März 2020 vom Schiedsgericht wegen zu großer Nähe zu rechtsextremen Organisationen und Personen aus der AfD ausgeschlossen wurde.(1) Mit Robert Vogelmann aus Heilbronn soll zudem ein flüchtlingsfeindlicher Aktivist auftreten, der bereits in der Vergangenheit mehrfach in Berlin mit seiner „Leine des Grauens“ – einer Auflistung vermeintlicher Straftaten durch Menschen mit Migrationshintergrund – aufgefallen war. Andere Redner wollen aus NRW und Sachsen-Anhalt anreisen. Ursprünglich sollte auch der rechtsextreme Aktivist Sven Liebich aus Halle auftreten, sagte jedoch kurzfristig ab. Erst heute hatte dieser einen Prozess vor dem Berliner Landgericht, bei dem Unterstützer Journalisten bedrängt haben. (2)
(1) https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/saarland-afd-landesvorstand-absetzung-bundesvorstand
(2) https://taz.de/Angriff-auf-ZDF-Team/!5686611/
Stand 05.06.2020