Besorgniserregende Schulterschlüsse in pandemischen Zeiten – Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen 2020 in Berlin

Von Frank Metzger (apabiz) mit Unterstützung von Ulf Balmer (MBR)

Etwa 10.000 Menschen demonstrierten am 18. November 2020 in Berlin-Mitte. Ein Teil von ihnen versuchte, zum Bundestag vorzudringen. Ein massives Polizeiaufgebot und der Einsatz von Wasserwerfern verhinderte dies. Diverse von Verschwörungsideologien mit Bezug auf die Corona-Pandemie geprägte Gruppierungen sowie unterschiedlichste extrem rechte Akteur*innen hatten bundesweit mobilisiert. Das im Vorfeld öffentlich proklamierte Ziel der teils aggressiven Masse war es gewesen, eine parlamentarische Abstimmung zum Infektionsschutzgesetz zu verhindern. Der Tag war ein besonders prägnantes Beispiel dessen, was sich seit dem Frühjahr 2020 mitunter mehrmals wöchentlich in Berlin bei den unterschiedlich großen Versammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen abgespielt hatte.

In der ersten Reihe mit dabei war am 18. November der seit Jahrzehnten bekannte Neonaziaktivist Thomas „Steiner“ Wulff. Er versuchte, gemeinsam mit anderen Neonazis inmitten einer ansonsten heterogenen Menge, die Polizeiketten zu durchbrechen. Nur kurz zuvor hatte Wulff in einem auf Social-Media verbreiteten Video am Sowjetischen Ehrenmal an der Straße des 17. Juni mit mehreren Personen eine Haubitze aus dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Parlament gedreht. Die Botschaft war eindeutig: Man wolle „mal Richtung Reichstag schießen […] oder Bundestag sagt man ja heute“, kommentierte die filmende Person unter großem Gelächter der Umstehenden.

Bis heute ist auf den Versammlungen ein irritierendes Miteinander zu beobachten, das meist unter der (Selbst-)Bezeichnung „Querdenken“ zusammengefasst wird. Neonazis, Verschwörungsideolog*innen und Reichsbürger*innen demonstrieren neben jungen Familien und Senior*innen, Impfgegner*innen, Esoteriker*innen und christlichen Fundamentalist*innen. Aber auch (zumindest ihrem Selbstverständnis nach) linke Friedens- und Umweltaktivist*innen sowie Kulturschaffende sind dabei. Was sie eint, ist der Zweifel an der gesundheitlichen Gefahr durch den Virus – wenn nicht gar dessen rigorose Leugnung, sowie die damit begründete Ablehnung der verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Verknüpft wird dies mit einer oftmals aggressiv artikulierten Mischung aus Regierungs- und Demokratie- sowie Wissenschafts- und Medienfeindlichkeit.

Wider den „Extremismus“

Die Versammlungen des vergangenen Jahres wiesen Parallelen zu den sogenannten „Mahnwachen für den Frieden“ auf, bei denen ab 2014 ähnlich heterogene Zusammenschlüsse auf die Straßen gingen. Etliche der damaligen Akteur*innen traten auch jetzt wieder in die Öffentlichkeit. Um die auf den ersten Blick widersprüchlich anmutende Konstellation zu fassen, wurde sowohl für die „Friedensmahnwachen“ 2014 als auch für die aktuellen „Querdenken“-Versammlungen mitunter der Begriff der „Querfront“ bemüht. Zumindest für die anhaltenden Proteste gegen die Pandemie-Maßnahmen trifft die „Querfront“-Bezeichnung jedoch nicht zu und ist eher irreführend. Historisch geht der Begriff auf die Zeit der Weimarer Republik zurück und kennzeichnet laut Politikwissenschaftler Alexander Häusler „das Bestreben unterschiedlicher politischer Gruppierungen von rechts und links zur Zusammenarbeit, um das „System“, die liberale Ordnung, zu zerstören.“ Bekanntestes Beispiel ist der gescheiterte strategische Versuch von Nationalsozialist*innen und Nationalrevolutionär*innen, den nationalistisch gesinnten Teil der gewerkschaftlichen Bewegung für sich zu gewinnen. Das Ziel war jedoch kein Bündnis mit der linken Opposition, sondern eine Übernahme und Auflösung derselben.1 Im heutigen Diskurs wird der Begriff der „Querfront“ – selbst wenn er zur Beschreibung eines spektrenübergreifenden Phänomens genutzt wird – oft mit der sogenannten Hufeisentheorie assoziiert und mitunter gar synonym verwendet. Aus dem Blick gerät bei dieser Einordnung als „Querfront“ jedoch die weitaus größte Gruppe derjenigen, die im Zuge der Corona-Pandemie gemeinsam mit u.a. Neonazis, Reichsbürger*innen und Verschwörungsideolog*innen den Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung herbeiführen wollen: Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozioökonomischen Verhältnissen und Altersgruppen in einem relativ ausgewogenen Geschlechterverhältnis, die gemeinhin als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnet werden. Von außen betrachtet entstand der Eindruck, dass viele Teilnehmende sich zuvor nicht politisch engagiert hatten und 2020 ihre ersten Demonstrationserfahrungen sammelten.

Der Begriff der „Querfront“ kann zudem insofern zu einer verkürzten Analyse des Phänomens beitragen, da keineswegs von einem Gleichgewicht gegensätzlicher politischer Lager gesprochen werden kann. Entsprechend treffend konstatiert Häusler an gleicher Stelle: „Die heutige Bewegung der Pandemie-Leugner*innen kann aber nicht als ‚Querfront‘-Bewegung bezeichnet werden, weil sie keine nennenswert starken linken Strömungen aufweist.“ Schließlich suchen bei den Versammlungen nicht die vermeintlichen „Extremist*innen“ von Rechts und von Links den Schulterschluss. Trotz legitimer Gründe, das staatliche Krisenmanagement in der Pandemie zu kritisieren, gingen emanzipatorische Linke und große Teile der Berliner Zivilgesellschaft vielmehr auf Distanz zu den anfangs „Hygiene-Demos“ genannten Versammlungen, die ab Ende März 2020 von der „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ gestartet wurden. Ab April 2020 formierten sich gar vielfältige Gegenproteste, und bei den sich daran beteiligenden Initiativen und Bündnissen setzten interne Diskussionen und Selbstverständigungsprozesse ein. Es bestand großer Redebedarf über die aktuelle Krisensituation und das staatliche Handeln – insbesondere über die Aussetzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit in Berlin im März und April. Klar blieb jedoch bei aller Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die klare Abgrenzung gegenüber den sich etablierenden „Querdenken“-Protesten.

Offene Flanke nach rechts

Die „Hygiene-Demos“ blieben jedoch über viele Monate hinweg die einzigen Orte im öffentlichen Raum, an denen vermeintliche Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sichtbar artikuliert wurde – ein Umstand, der den Protesten weiteren Zulauf bescherte. Von Beginn an schlossen sich zahlreiche extreme Rechte unterschiedlicher Gruppen und Strukturen sowie Einzelpersonen den „Querdenken“-Protesten an. Sie erkannten hier ein Mobilisierungspotenzial für eigene Aktivitäten und erhofften sich, politische Akzente setzen und von der Protestdynamik profitieren zu können. Vermehrt in Erscheinung traten durch Fahnen und Symbole erkennbare Reichsbürger*innen sowie QAnon-Gläubige, die im staatlichen Krisenmanagement angebliche Beweise für weltweite Verschwörungen und geheime Pläne geheimer Machteliten zu erkennen meinen. Deren Äußerungen und „Argumentationen“ – wie auch die anderer Teilnehmender –, waren teils chiffriert, teils offen antisemitisch.2

Zudem nahmen Vertreter*innen verschiedener Rechtsaußen-Parteien teil. Von Beginn an waren AfD-Mitglieder und Aktivist*innen des mittlerweile – zumindest offiziell – aufgelösten „Flügels“ sowie aus dessen Umfeld vor Ort. Ähnlich wie zuvor schon bei PEGIDA versuchten sie, die Partei als „parlamentarischen Arm der Bewegung“ zu inszenieren, auch wenn das nicht die generelle Parteilinie war. Mitunter traten sie als Redner*innen auf oder führten eigene Kundgebungen im Rahmen größerer Protesttage durch. Darüber hinaus verschafften AfD-Abgeordnete am bereits erwähnten 18. November „Querdenken“-Aktivist*innen Zugang zum Bundestag. Sie ermöglichten diesen damit, Abgeordnete demokratischer Parteien zu bedrängen, mit dem Ziel, sie in ihrem Abstimmungsverhalten zur Novellierung des Infektionsschutzgesetzes zu beeinflussen.

Auch Funktionär*innen und Aktivist*innen der neonazistischen Kleinstparteien NPD und Der III. Weg beteiligten sich ab April 2020 an den Versammlungen. Sie gaben sich mitunter durch Schilder zu erkennen oder verteilten Propagandamaterial. Darüber hinaus waren Aktivist*innen und Gewalttäter*innen aus neonazistischen Kameradschaftsstrukturen sowie aus dem Hooligan-Milieu Teil der Proteste – hinsichtlich ihres Auftretens erkennbar auf der Suche nach Auseinandersetzung und durchaus zur Stelle, wenn es dazu kam. Die ersten gewalttätigen Ausschreitungen zwischen rechten Hooligans und der Polizei hatte es in Berlin bereits am 9. Mai 2020 auf dem Alexanderplatz gegeben.

Es ist wichtig zu betonen, dass die „Hygiene-Demos“ nicht als harmloser Protest begannen und dann von extrem rechten Akteur*innen unterwandert wurden, sondern diese von Beginn an ein sichtbarer und akzeptierter Teil der Versammlungen waren. Ihren antisemitischen, völkischen und sozialdarwinistischen Inhalten wurde nur selten widersprochen. Wenn überhaupt, gab es allenfalls alibihafte Distanzierungsversuche, die bei den Straßenprotesten jedoch keinerlei Auswirkungen hatten. Hier stießen die antidemokratischen Positionen vielmehr auf Resonanz und wurden allzu gern von anderen aufgegriffen. Um dieses neue Protestphänomen in Berlin zu fassen, führte die MBR Berlin im Frühjahr den weiterhin zutreffenden Begriff „rechtsoffen“ ein.

„Querdenken711“ aus Stuttgart um die mittlerweile intern umstrittene Führungsfigur Michael Ballweg, IT-Unternehmer und dem eigenen Selbstverständnis nach aus der „Mitte der Gesellschaft“ kommend, ist die mobilisierungsstärkste Struktur der Protestbewegung und hatte maßgeblich die beiden Großdemonstrationen am 1. und 29. August 2020 in Berlin organisiert. Als eines der Ideale hat „Querdenken711“ in ihrem „Manifest“ formuliert, mit allen reden zu wollen „die friedlich und gewaltfrei agieren, egal wie sie von Dritten bezeichnet werden“, denn das eröffne einen „freien und demokratischen Debattenraum“.3 Der Anwalt Ralf Ludwig aus dem Umfeld von „Querdenken711“ ging noch einen Schritt weiter. Als am 7. November 2020 in Leipzig Neonazis in großer Zahl an einer „Querdenken“-Versammlung teilgenommen und deren gewaltsame Dynamik maßgeblich vorangetrieben hatten, zog Ludwig einen Tag später bei einer Rede auf einer Kundgebung in Dresden eine bemerkenswerte Bilanz. Er bezeichnete die Teilnahme von Neonazis der NPD als „Erfolg von uns“, da man es damit geschafft habe, dass „auch diejenigen, die bisher außerhalb der Gesellschaft standen, wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückgefunden haben“. Und das sei seiner Meinung nach „doch auch Antifaschismus“.

In Berlin organisierte die vermeintlich linke „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW) seit dem Frühjahr 2020 mit den „Hygiene-Demos“ einen der zentralen inhaltlichen Anknüpfungspunkte für diese rechtsoffene Praxis. In ihrer seit April 2020 wöchentlich erscheinenden Zeitung wurde von Beginn an eine in „offensiver NS-Relativierung verpackte Regierungs-, Medien- und Wissenschaftsfeindlichkeit“ verbreitet. So war es nur konsequent, dass der KDW-Gründer und Herausgeber der Wochenzeitung – der Dramaturg und ehemalige taz-Autor Anselm Lenz – bald extremen Rechten wie Ellen Kositza vom Institut für Staatspolitik und COMPACT-Chefredakteur Jürgen Elsässer Gastbeiträge in der Zeitung der selbsternannten „Demokratiebewegung“ einräumte und zur direkten Zusammenarbeit überging. Lenz‘ regelmäßige Hetze gegen die „Merkel-Diktatur“ und den „neofaschistischen rot-rot-grünen Berliner Senat“4 steht stellvertretend für die Redner*innen der neu entstandenen verschwörungsideologischen Gruppierungen. Etliche der Demonstrierenden übernahmen die teils alten, teils neuen Verschwörungsmythen und durchliefen eine Radikalisierung im Zeitraffer. Auch diejenigen, die anfangs tatsächlich für Grundrechte demonstrieren wollten, leugneten regelmäßig die klar erkennbare Anwesenheit militanter Neonazis und dichteten sich zunehmend gegen Realität, Widerspruch und Kritik ab. Die Bedingungen für die extreme Rechte, ihre Propaganda zu platzieren, deren Normalisierung voranzutreiben und mögliche neue Anhänger*innen zu gewinnen, waren selten besser als im Corona-Jahr 2020.

Kampfbegriffe fernab der Verhältnismäßigkeit

Ein Erfolgsrezept der Mobilisierungen war die mantraartige Verwendung der mächtigsten Begriffe, die einer demokratischen Gesellschaft zur Verfügung stehen und auf die sich viele Teilnehmende berufen: Nichts weniger als Frieden, (Meinungs-)Freiheit, Demokratie sowie schlicht die Grund- und Menschenrechte sollten gegen „die da oben“ verteidigt werden. Die Begriffe wurden dabei jedoch sinnentleert verwendet und dienten vielmehr als Signalwörter für einen imaginierten finalen Kampf gegen einen vermeintlich aufziehenden neuen Faschismus.

Für eine rationale Kritik an den Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung müssten Begriffe wie Freiheit jedoch mit der komplexen Krisensituation ins Verhältnis gesetzt werden. Das würde zwangsläufig zur Schlussfolgerung führen, dass es in dieser Situation keine einfachen Antworten geben kann und unterschiedliche Grundrechte miteinander in Konflikt geraten. Doch die „Querdenken“-Gemeinschaft scheint mehrheitlich faktenresistent und mit Argumenten nicht erreichbar zu sein. Sie reklamiert den alleinigen Wahrheitsanspruch für sich und kommuniziert ihre Welterklärungsphantasien zur gegenseitigen Selbstbestätigung längst in ihren eigenen, gegen Widersprüche abgedichteten Filterblasen. Abweichende Meinungen werden der Lüge bezichtigt – egal wie umfassend, nachvollziehbar und stichhaltig die Argumentationen und wie belastbar die Quellen auch sein mögen. Von zentraler Bedeutung für die Informationsverbreitung, Mobilisierung und Radikalisierung ist ein weites Geflecht aus extrem rechten Journalist*innen, Streamer*innen und anderen vermeintlich journalistisch arbeitenden Medienaktivist*innen sowie zahlreichen Social-Media-Channels.5

Das Freiheitsverständnis der „Querdenker*innen“ ist egoistisch und fahrlässig, da sie wiederholt bewusst und gezielt gegen die Corona-Schutzmaßnahmen verstoßen. Im Gegensatz dazu nimmt der Großteil der Bevölkerung laut repräsentativen Umfragen die Corona-Pandemie sehr wohl ernst. Auch wenn Kritik und Zweifel wachsen, besteht weiterhin ein hohes Vertrauen in wissenschaftliche Forschung, und die politischen Maßnahmen werden – bei durchaus vorhandener Kritik an der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen – großteils für notwendig und angebracht erachtet. Die verschwörungsideologischen Akteur*innen aber beschwören in NS-relativierender Rhetorik gewaltige und erdrückende Drohkulissen herauf: Sie wähnen sich im „Widerstand“ gegen eine „Diktatur“, die ein „Ermächtigungsgesetz“ mithilfe gleichgeschalteter Medien und Justiz durchsetzen wolle. Statt der Teilnahme an einem argumentativen demokratischen Meinungsstreit für ein gutes Leben für alle vertreten sie aber im Kern neben radikal egoistischen auch antidemokratische und anti-egalitäre Positionen. Sie fantasieren Bürgerkriegsszenarien herbei und drohen mit einem Regierungs- und Systemsturz, in dessen Folge missliebige, ihrer Meinung nach verantwortliche Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und Journalist*innen inhaftiert und bei einem „Nürnberg 2.0“ genannten Prozess verurteilt werden würden. Mitunter wird den politisch Verantwortlichen in diesem Zuge mit Hinrichtung gedroht.

Legitimierung und Normalisierung der Gewalt

Nicht immer blieb es bei Drohgebärden. Immer wieder wurden am Rande der Versammlungen Personen bedrängt, die einen Mund-Nasen-Schutz trugen. Es kam auch zu Tätlichkeiten und Angriffen. Vor allem Journalist*innen wurden vermehrt gezielt an ihrer Arbeit gehindert und attackiert.6 Die Gewalt richtete sich auch gegen die Polizeikräfte, etwa wenn nach zahlreichen Aufforderungen die Infektionsschutzmaßnahmen immer noch nicht eingehalten wurden und Personen, nachdem sie sich auch nach direkter Ansprache verweigerten, zur Identitätsfeststellung abgeführt werden sollten.

Legitimiert wurde und wird das eigene Handeln durch die realitätsferne Behauptung, „das Volk“ zu repräsentieren oder für den „Volkswillen“ einzustehen und für diesen zu kämpfen. Zudem verweisen die Akteur*innen stets auf das Widerstandsrecht gegen die angeblich drohende oder gar bereits existente „Corona-Diktatur“. Der als Bezugspunkt genutzte Artikel 20 Absatz 4 im Grundgesetz besagt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Der letzte Nebensatz des Grundgesetzartikels schränkt das Widerstandsrecht auf eine Ultima Ratio ein. Es kursieren unterschiedliche verschwörungsideologische Narrative, um deren Notwendigkeit zu „beweisen“. Die Berufung auf das Widerstandsrecht ist jedoch eine gängige Legitimationsfigur, die in extrem rechten Kreisen spätestens seit den rassistischen Mobilisierungen in den Jahren 2015 und 2016 immer wieder bemüht wurde und nun in den verschwörungsideologischen Spektren Anwendung findet.

Die zweite große „Querdenken“-Versammlung in Berlin am 29. August 2020 fügte diesen Narrativen eine weitere Variante hinzu. Der Tag stand im Zeichen einer Art „Reichsbürgerisierung“ der Proteste. Forderungen nach „Souveränität“, „Friedensvertrag“ und „Freiheit“ dominierten die Szenen im mit zehntausenden Teilnehmenden gefüllten Regierungsviertel. Nachdem wochenlang ein Widerstandsrecht zur Verteidigung des Grundgesetzes propagiert worden war, wurde nun dessen Gültigkeit bestritten. Demnach befände sich Deutschland noch immer im Kriegszustand und sei nicht souverän, sondern fremdbestimmt von den alliierten Siegermächten. In den Abendstunden überrannten einige hundert Menschen, darunter zahlreiche extreme Rechte, die Absperrungen am Reichstag und besetzten kurzzeitig die Treppe. Dieser als „Sturm auf den Reichstag“ medial überhöhte Vorgang blieb ein symbolischer Akt. Möglicherweise jedoch nur, weil zwar der Wille zur Stürmung des Parlaments vorhanden und diese im Vorfeld auch angekündigt worden war, die tatsächliche Gelegenheit dann aber doch überraschte. Zudem mangelte es glücklicherweise an Koordinationsfähigkeit. Denn Teil der „Querdenken“-Proteste an diesem Tag und zu diesem Zeitpunkt noch in unmittelbarer Nähe war eine hohe Anzahl gewaltaffiner extremer Rechter aus unterschiedlichen Strukturen, wie etwa den Identitären, der NPD, von Die Rechte und Der III. Weg sowie aus der Kameradschafts- und der Neonazi-Kampfsportszene. Eine koordinierte Aktion dieser Personenkreise hätte fatalere Folgen haben können.

Kein Ende absehbar

Die personelle und organisatorische Vernetzung zwischen der „enthemmten Mitte“, den verschwörungsideologischen Spektren und der extremen Rechten verstärken sich, je länger die gemeinsamen Proteste anhalten. Es wird dasjenige autoritäre Potential abgerufen und mobilisiert, das Einstellungsuntersuchungen seit Jahren feststellen – bundesweit wie auch für Berlin. So lange die Pandemie und die damit verbundene gesellschaftliche Krisensituation anhält, wird wohl auch die Radikalisierung, die von „Alternativen Medien“ und in Social-Media-Echokammern befeuert wird, weitergehen. Das birgt die Gefahr, dass die dort verbreiteten Falschinformationen und die mitunter offene Hetze zu weiteren gewalttätigen Angriffen animieren könnten – auch und gerade dann, wenn die Straßenproteste aufgrund rückläufiger Teilnehmendenzahlen oder behördlicher Verbote zu Frustrationen führen. Der Brandanschlag am 25. Oktober 2020 auf das Robert-Koch-Institut in Berlin sowie ähnliche Angriffe auf Testzentren sind jedenfalls bereits eine Folge dieser Dynamik.

Jenseits dieser Radikalisierungsgefahren und dem beschriebenen Gewaltpotential bei dem auch 2021 fortdauerndem Versammlungsgeschehen bleibt die Normalisierung von Verschwörungsmythen virulent. Nicht zuletzt durch die sinnentleerte Nutzung von Begriffen wie „(Meinungs-)Freiheit“, „Zensur“ oder „Menschenrechte“ besteht weiterhin eine wirkmächtige Anschlussfähigkeit an Teile der sogenannten gesellschaftlichen Mitte, die sich auf den öffentlichen Diskurs auswirkt. Der seit Jahren durch empirische Studien belegte Vertrauensverlust in die parlamentarische Politik ist im Zuge der Pandemiekrise 2020 – ähnlich wie schon 2015 bei PEGIDA – in ein trotziges und aggressives Aufbegehren gegen „die da oben“ umgeschlagen. Dieses Aufbegehren verband sich 2020 im Rahmen eines dynamischen Protestgeschehens mit den antidemokratischen Potenzialen in der Bevölkerung und wird als dauerhafter Kitt für heterogene Bündnisse in den nächsten Jahren fortwirken.

 

1 Vgl. Weiß, Volker: Vom elitären Zirkel zur Massenbewegung. Die Neue Rechte in Pandemiezeiten, in: Kleffner, Heike/ Meisner, Matthias (Hg.): Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Freiburg 2021, S. 158–166.

2 Weitere Ausführungen dazu finden sich hier: Kopp, Julia (RIAS): „Die waren das mit dem Virus“; in: apabiz/MBR (Hrsg.): Berliner Zustände 2020 – Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, S. 34-39

3 Vgl. Querdenken711: Unser Manifest; in: https://querdenken-711.de/manifest/ (letzter Zugriff: 11.08.2021)

4 So oder in ähnlicher Form äußerte sich Anselm Lenz 2020 mehrfach auf verschiedenen Versammlungen, die vom apabiz in Bild und Ton dokumentiert wurden.

5 Empfehlung zur vertiefenden Analyse: Geiler, Julius: Wie eine eigene Realität entsteht. Verschwörungsideologische Medien sind das Sprachrohr der »Coronarebellen«, in: Kleffner, Heike/ Meisner, Matthias (Hrsg.): Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde. Freiburg 2021, S. 212-227

6 Vgl. Reichel, Jörg: Pressefreiheit 2020: Angriffe auf Journalist*innen in Berlin, in: apabiz/MB (Hrsg.): Berliner Zustände 2020 – Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, S. 24-33