Seit Jahren greifen Rechtsextreme am Gedenktag der Novemberpogrome an – auch in Berlin-Neukölln.
Von Simon Brost und Matthias Müller (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin)
Dieser Beitrag erscheint nach den antisemitischen Massakern der islamistischen Terrororganisation Hamas und ihrer Verbündeten am 7. Oktober 2023 an Zivilist_innen in Israel. Für das Ausmaß der Grausamkeit finden sich keine angemessenen Worte. Auch in Berlin haben jüdische Menschen Angst um ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben, denn auch hier häufen sich antisemitische Markierungen, Anfeindungen und Angriffe. Auf Neuköllner Straßen gab es zuletzt antisemitische und gegen Israel gerichtete Parolen und Gewaltakte. Antisemitismus hat viele Facetten und findet sich in allen gesellschaftlichen Gruppen. Die aktuell stärkste Ausprägung ist der israelbezogene Antisemitismus, der eine entschiedene Reaktion der gesamten Stadtgesellschaft erfordert. Über Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen muss jedoch mehr gesprochen werden; vor diesem Hintergrund ist schließlich die Entscheidung gefallen, an der Veröffentlichung dieses Artikels in der geplanten Form festzuhalten.
In Neukölln haben rechtsextreme Aktivitäten und Angriffe im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre spürbar zugenommen. Seit ihrer Gründung im Jahr 2001 berät die MBR im Bezirk Akteur_innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltungen im Umgang mit rechtsextremen Einschüchterungen, Anfeindungen und Angriffen. Angegriffen wurden in erster Linie engagierte Personen, Projekte, Vereine und Parteien, die sich deutlich gegen Rechtsextremismus positionierten. Derzeit beschäftigt sich auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus mit der Aufarbeitung der Ermittlungen zu Taten, die im Zeitraum 2009 bis 2021 stattfanden. Im öffentlichen und medialen Sprechen über diese Neuköllner Angriffsserien fällt auf, dass selten der antisemitische Charakter des Rechtsextremismus thematisiert wird. Dies ist umso bemerkenswerter, als es gerade am oder um den 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, wiederholt rechtsextreme Angriffe in Neukölln gegeben hat.
Antisemitisches „Mapping“
Bei den „Freien Kräften Berlin-Neukölln“ handelte es sich um ein der MBR seit 2010 bekanntes Label aktionsorientierter Rechtsextremer aus Neukölln, das für konspirative und für potenziell strafrechtlich relevante Aktivitäten verwendet wurde. Am 9. November 2016 wurden auf der Facebook-Seite der „Freien Kräfte Berlin-Neukölln“ rund 70 jüdische Einrichtungen auf einer Karte, die das Stadtgebiet Berlins zeigt, farblich markiert. Zuvor waren auf der Facebook-Seite bereits Karten mit Treffpunkten politischer Gegner_innen und Standorte von Flüchtlingsunterkünften im Bezirk Neukölln veröffentlicht worden. Die antisemitische Karte war ergänzt um die genauen Adressen, zum Beispiel von Gemeindeeinrichtungen, jüdischen Geschäften oder Restaurants, Kindertagesstätten und Schulen. Außerdem fand sich auf der Grafik zusätzlich zur eigentlichen Karte ein indirekter Aufruf zur Bekämpfung von Jüdinnen_Juden, die im Sinne der antisemitischen Ideologie als „innerer Feind“ klassifiziert wurden. Hinzu kam ein zynischer Ausspruch, der unverhohlen positiven Bezug nahm auf die antisemitischen Plünderungen, Zerstörungen und die Verschleppung und Ermordung von jüdischen Menschen im Zuge der Novemberpogrome.
Die MBR versandte gemeinsam mit dem Büro des damaligen Bundestagsabgeordneten und heutigen Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, eine Information und ein Beratungsangebot an alle auf der Karte aufgeführten Einrichtungen und informierte begleitend dazu die Öffentlichkeit. Die Vorfälle erfuhren eine breite, auch internationale Resonanz in der Presse. Im Ergebnis wurde die Facebook-Seite vom Plattformbetreiber dauerhaft gelöscht. Im Juni 2017 wurde bei einem bekannten Neuköllner Rechtsextremen, der verdächtigt wurde, Betreiber der Facebook-Seite und somit Urheber der Veröffentlichung zu sein, ein Durchsuchungsbeschluss vollstreckt. Dieser Rechtsextreme galt auch im Zusammenhang mit der rechtsextremen Neuköllner Angriffsserie zumindest zeitweilig als Verdächtiger. Zu einer Verurteilung aufgrund der antisemitischen Karte kam es nicht.
Diebstahl von Stolpersteinen
Bis heute nicht aufgeklärt wurde auch eine Reihe von antisemitisch motivierten Diebstählen und Sachbeschädigungen von sogenannten Stolpersteinen für im Nationalsozialismus ermordete Jüdinnen_Juden in Neukölln. Insgesamt 16 südlich des S-Bahn-Rings verlegte Stolpersteine wurden Anfang November 2017, wenige Tage vor dem 79. Jahrestag der Novemberpogrome, systematisch und gewaltsam aus dem Pflaster entfernt und entwendet. In vier weiteren Fällen wurde dies versucht. Trotz plakatierten Zeugenaufrufen und aufwendigen Suchmaßnahmen der Polizei, insbesondere in der besonders betroffenen Hufeisensiedlung, bleiben die gestohlenen Gedenksteine bis heute verschwunden.
Auch wenn die MBR diese offensichtlich organisierte antisemitische Aktion aufgrund von Unterschieden in der Begehungsweise und der Zielauswahl nicht zur rechtsextremen Angriffsserie zählt, rechnet sie die Taten dennoch dem gleichen überschaubaren Kreis Neuköllner Rechtsextremer zu. Es ist bekannt, dass Rechtsextreme gesellschaftliche Diskurse, wie das Gedenken an den Nationalsozialismus, verfolgen und sich durch die Verbreitung und Normalisierung von geschichtsrevisionistischen Positionen bestärkt und zum Handeln motiviert fühlen können. Vor diesem Hintergrund ist eine vorangegangene Debatte in der Neuköllner Bezirksversammlung zur bezirklichen Bezuschussung der Verlegung neuer Stolpersteine bemerkenswert, in der Vertreter_innen der AfD dieses Vorhaben in Redebeiträgen infrage stellten und schlussendlich zum Teil auch ablehnten.
Markierung von Bewohner_innen der Hufeisensiedlung
Am 9. November 2021 wurde in der Britzer Hufeisensiedlung ein Hakenkreuz an das Haus eines deutsch-israelischen Paares gesprüht. In diesem Zusammenhang machten die beiden einen weiteren Vorfall öffentlich: Wenige Wochen zuvor hatte das Paar mit seinem Besuch im Garten gesessen. Sie sprachen dabei meist Englisch, zeitweise wurde aber auch ins Hebräische übersetzt. Plötzlich hörten sie ein zischendes Geräusch und spürten eine starke Reizung der Atemwege und der Augen. Eine unbekannt gebliebene Person hatte vermutlich Reizgas durch die Hecke gesprüht. Sie hatten sich nach diesem Angriff gefragt, weshalb gerade sie attackiert worden waren und ob sie vielleicht schon seit längerem beobachtet wurden.
Mutmaßlich waren die Angreifer durch eine Channukia auf sie aufmerksam geworden. Der achtarmige Kerzenleuchter stand längere Zeit auf dem Fensterbrett und war von außen gut sichtbar. Auch wenn das Paar viel Zuspruch und Solidarität aus der lokalen Zivilgesellschaft erhielt, verunsicherten die Angriffe sie sehr. Sie begannen, ihr Verhalten im Alltag einzuschränken, um möglichst nicht aufzufallen und hörten zum Beispiel beim Telefonieren in der Öffentlichkeit damit auf, Hebräisch zu sprechen.
Brandanschläge auf linken Jugendverband
In den Morgenstunden des 9. November 2011 wurde das Anton-Schmaus-Haus, die Jugendeinrichtung der „Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken Neukölln“ im Ortsteil Britz zum wiederholten Mal Ziel eines Brandanschlags. Bereits im Juni des gleichen Jahres war das Haus in Brand gesetzt worden. Die Bauarbeiten zum Wiederaufbau waren im vollen Gange, und im Dezember sollte eigentlich wieder geöffnet werden, als am 9. November auf ähnliche Weise wie zuvor Holz an die Hauswand gestellt und angezündet wurde. Es gab mehrere Brandherde, von denen einer die Fassade stark beschädigte, sodass die Einrichtung für lange Zeit schließen musste.
Die Anschläge waren indirekt angekündigt worden, denn das Anton-Schmaus-Haus wurde auf rechtsextremen Feindeslisten geführt, so auch später auf der Facebook-Seite der „Freien Kräfte Berlin-Neukölln“: Mehrere der dort genannten Einrichtungen waren bereits in der Vergangenheit angegriffen worden. Beim ersten Brandanschlag schlief in der Nacht zuvor eine Jugendgruppe in der Einrichtung, und eine Woche vorher war eine israelische Jugendgruppe zu Besuch – das zeigt die potenziell tödliche Gefahr der beiden Anschläge. Es ist sehr wahrscheinlich, dass vor der Brandstiftung nicht kontrolliert wurde, ob Menschen im Haus waren. Da sich die Neuköllner Falken seit jeher deutlich gegen Antisemitismus engagieren und freundschaftliche Kontakte nach Israel pflegen, ist auch hier von einer antisemitischen Tatmotivation auszugehen, allein schon wegen des Anschlagsdatums 9. November.
Aufklärung und Solidarität sind notwendig
Antisemitismus in all seinen Facetten ist unverändert wesentlich für die Ideologie des Rechtsextremismus und seine Parteien, Bewegungen und Szenen. Das gilt auch für die Aktivitäten in Neukölln, wo jüdische Personen und Einrichtungen sowie Menschen, die sich gegen Antisemitismus engagieren, von Rechtsextremen eingeschüchtert, bedroht und angegriffen werden. Die Angriffe sind unterschiedlich: Sie reichen von Markierungen von Personen und Einrichtungen über den Diebstahl von Gedenktafeln, über Hakenkreuze an Wohnhäusern bis hin zu potenziell tödlichen Brandanschlägen. Für Angriffe wird regelmäßig der 9. November, der Gedenktag an die Reichspogromnacht, bewusst gewählt. Zum einen erhalten die Taten dadurch in der öffentlichen Berichterstattung eine größere Aufmerksamkeit, zum anderen stellen sich die Täter_innen damit in die politische Tradition des historischen Nationalsozialismus und demonstrieren die Bereitschaft, an den Antisemitismus des NS anzuschließen.
Die Verknüpfung antisemitischer Taten mit dem 9. November kann das ohnehin bestehende Bedrohungsgefühl bei Jüdinnen_Juden weiter erhöhen. Mitunter werden auch historische Bilder und Ereignisse wachgerufen. Für Betroffene wirkt sich besonders resignierend aus, dass wegen der oben angeführten antisemitischen Angriffen bisher niemand juristisch zur Verantwortung gezogen wurde. Auch deshalb brauchen gerade jüdische Menschen und Einrichtungen sowie gegen Antisemitismus Engagierte die Solidarität der Zivilgesellschaft.
Auf den Diebstahl der Stolpersteine haben Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft vorbildlich reagiert: Mit einer vom Bezirksamt Neukölln unterstützen Spendenaktion haben zivilgesellschaftliche Initiativen Mittel eingenommen, mit denen nicht nur die gestohlenen und beschädigten Stolpersteine vollständig ersetzt, sondern auch die Verlegung weiterer Stolpersteine finanziell ermöglicht werden konnte.
Stand: 7. November 2023
Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf Belltower.News