Aktualisierung: Beobachtungen zu den sogenannten „Montagsspaziergängen“ in Berlin

Nachdem in Berlin überregionale Versammlungen der verschwörungsideologischen Pandemieleugner_innenszene zum Jahresende 2020 abgeflaut waren und es auch 2021 bei einer geringen Mobilisierungsdynamik blieb, reaktivierte sich das verbliebene Protestmilieu Ende des Jahres 2021. Grund für die stagnierenden Teilnehmendenzahlen 2021 war vor allem der Rückzug bundesweiter Strukturen wie „Querdenken“ aus der Protestorganisation. Das entstandene Vakuum versuchten unterschiedliche Akteur_innen regional zu füllen. Im November 2021 entstanden zunächst in Sachsen erste dezentrale „Spaziergänge“, die sich dann bundesweit ausbreiteten. Auslöser dieser neuen Dynamik dürften die weiteren Verschärfungen der staatlichen Schutzmaßnahmen gewesen sein, insbesondere die damit verbundene Debatte um eine Impfpflicht, sowie das Anwachsen des sozialen Drucks auf nicht geimpfte Personen.

Ende Januar beteiligten sich in Berlin bei verschiedenen angemeldeten und unangemeldeten Versammlungen noch etwa 5.000 bis 6.000 Personen an den „Montagsspaziergängen“. Zwei Monate nach Beginn der mehrheitlich unangemeldeten „Spaziergänge“ lässt sich feststellen, dass die Teilnehmendenzahlen deutlich zurückgegangen sind und zuletzt noch etwa 2.000 Personen an den verschwörungsideologischen Montagsprotesten teilgenommen haben. Gleichzeitig ist eine erneute Fokussierung auf angemeldete Versammlungen zu beobachten. Als regionale Schwerpunkte haben sich insbesondere Tegel, Mitte, Köpenick und Spandau herausgebildet. Auch wenn vereinzelt noch unangemeldete „Spaziergänge“ im Stadtgebiet durchgeführt werden, scheint diese Aktionsform, der es zumindest zeitweise gelang, das in Berlin nur noch schwer zu motivierende Protestmilieu zu mobilisieren, ausgeschöpft.

Sinkende Teilnehmendenzahlen
Die Aktionsform der „Spaziergänge“ war und ist im Gegensatz zu angemeldeten Versammlungen niedrigschwelliger für eine Teilnahme. Gleichzeitig lässt sich auf ihnen das für die Binnenwirkung wichtige Moment der Selbsterhöhung gemeinsam zelebrieren. Jedes Nicht-Einhalten der Pandemieschutzmaßnahmen wird in den entsprechenden Telegram-Gruppen in detailliert ausgeschmückten Berichten als widerständige Alltagspraxis präsentiert und von den Mitlesenden honoriert. Der gemeinsame „Regelübertritt“, am Montag unangemeldet und ohne Mund-Nasen-Schutz oder Abstände in teilweise großen Gruppen auf die Straße zu gehen, bedient das Gefühl, Teil einer wichtigen und großen Protestbewegung zu sein.

Mit den ständig sinkenden Teilnehmendenzahlen wurden jedoch sowohl die Inszenierung einer großen Protestbewegung als auch der gemeinsame „Regelübertritt“ immer schwieriger. Diese Entwicklung ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Von Pankow ausgehend, organisierten immer mehr Anwohner_innen, Initiativen und Bündnisse aus der Berliner Zivilgesellschaft Gegenproteste zu den verschwörungsideologischen Ansammlungen und der sie begleitenden Pandemieleugnung. Dieser berlinweite Widerspruch führte auch zu einer größeren polizeilichen Präsenz und mitunter zum Einschreiten bei unangemeldeten Versammlungen und bei der Nichteinhaltung von Pandemieschutzmaßnahmen. Dass vonseiten der Gegenproteste die Teilnahme rechtsextremer Aktivist_innen und die dort vertretenen demokratiefeindlichen und verschwörungsideologischen Positionen regelmäßig herausgestellt wurden, führte dazu, dass dies auch in den Medien und der Stadtpolitik stärker thematisiert wurde.

Die verschwörungsideologischen Zusammenhänge in Berlin reagierten darauf mit einer Strategie der Entpolitisierung in Form des Verzichts auf jegliche politischen Inhalte sowie einer demonstrativen Abgrenzung von rechtsextremen Teilnehmer_innen. Seit dem 21. Februar werden auf dem für die Proteste am Montag koordinierenden Telegramkanälen von „Berlin steht Auf“ mehrheitlich angemeldete Versammlungen beworben. Hier zeigt sich der nächste Versuch, das aktuell noch mobilisierbare Protestmilieu weiterhin einzubinden. Indem die Mobilisierung zu diesen Montagsdemonstrationen aufrechterhalten wird, wird zudem die Verbundenheit mit der bundesweiten „Protestbewegung“ der „Montagsspaziergänge“ (die insbesondere in Sachsen ihren Anfang nahm) bekundet.

Heterogenes Milieu
Das Milieu der Menschen, die an den „Spaziergängen“ teilnehmen, ist äußerst heterogen und scheint unterschiedlich motiviert zu sein. Das Spektrum reicht von Impfgegner_innen, alternativen und esoterischen Milieus, Anhänger_innen der Lebensreformbewegung über Teilnehmer_innen der „Montagsmahnwachen für den Frieden“ bis hin zu „QAnon“-Gläubigen. Auch Reichsbürger_innen, AfD-Politiker_innen und „traditionelle“ Rechtsextreme wie Aktivist_innen der NPD und des III. Weg sind regelmäßig anwesend und ein akzeptierter, wenn auch in Berlin im bundesweiten Vergleich kleiner Teil der Versammlungen. Als ideologische Klammern dienen Verschwörungserzählungen, Antisemitismus und ein Anti-Elitismus – die Teilnehmenden sehen sich selbst als wahre Repräsentant_innen des „Volkes“ bzw., im Fall der Reichsbürger_innenszene, als legitimen Souverän. Damit tragen auch die „Spaziergänge“ mit ihrer Offenheit und fehlenden Abgrenzung nach Rechts zu einer Normalisierung rechtsextremer Inhalte bei.

Den „Spazierenden“ geht es darum, eine Empörung der gesellschaftlichen „Mitte“ zu inszenieren. Um dieses Ziel zu erreichen, werden auch in Berlin verschiedene Strategien angewandt. So wird dazu aufgerufen, auf alle politischen Symbole zu verzichten, nachdem infolge kritischer Medienberichterstattung die demonstrative Distanzierung von einem durch Anhänger_innen der rechtsextremen „Patriotic Opposition Europe“ organisierten Versammlung in Berlin-Mitte vollzogen wurde. Bei dem Verzicht scheinen allerdings unterschiedliche strategische Überlegungen sowie (persönliche) Streitigkeiten der jeweiligen Organisator_innen im Vordergrund zu stehen. Es gibt indes aus dem Organisationskreis der „Spaziergänge“ auch Versuche, die Proteste zu zentralisieren und dadurch auszuweiten. So beteiligten sich die bekannten Berliner Akteur_innen von Demo-Tour und Freedom Parade u.a. maßgeblich an den Versammlungen von „Friedlich Zusammen“ und organisierten am 31. Januar 2022 einen Protest unter dem Motto „Pflege steht auf“. Dass es sich hierbei um eine bewusste Strategie handelt, gesellschaftliche Breite zu inszenieren und Legitimität des Protestes zu suggerieren, zeigt sich in den Diskussionen der für die „Spaziergänge“ maßgeblichen digitalen Strukturen von „Berlin steht Auf / Freie Berliner“. Die für die Kommunikation und Vernetzung relevanten Social-Media-Kanäle wurden von ehemaligen Querdenken-Aktivist_innen angelegt und verwaltet.

Außenwirkung scheint unpolitisch
Dass die „Spaziergänge“ in ihrer öffentlichen Außenwirkung zurzeit mit wenigen Transparenten und Schildern auftreten, heißt also nicht, dass es sich um unpolitische Versammlungen handelt. Auch Rufe wie „Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung“, „Wir sind das Volk“ oder „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ müssen nicht zwangsläufig ein Bekenntnis zu Demokratie darstellen. In den Analysen und Medienbeiträgen zu den Protesten sind immer wieder Schwierigkeiten zu beobachten, die kursierenden Narrative politisch einzuordnen – auch, weil rechtsextreme und verschwörungsideologische Akteur_innen bewusst an begrifflichen Umdeutungen arbeiten und sie in die Proteste einbringen. Beispielhaft dafür ist die geschichtsrelativierende Aneignung der Begriffe „Widerstand“ und „Freiheit“, die auf eine angebliche „Corona-Diktatur“ angewandt werden, der unterstellt wird, Grundrechte zu entziehen. Gleichzeitig wird auf den „Spaziergängen“ der eigene Standpunkt durch Slogans wie „Keine Diktatur!“ gezielt offengelassen. Die Narrative werden inhaltlich bewusst unbestimmt gehalten und bieten so eine breite Anschluss- und Mobilisierungsfähigkeit; die allgemeine Ablehnung der staatlichen Maßnahmen wird anschlussfähig für unterschiedliche, auch untereinander unvereinbare politische Vorstellungen und ist offen für völkisch-nationalistische Argumentationen. Zudem wird Anschlussfähigkeit an antidemokratische Einstellungen in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte hergestellt.

Die Teilnehmenden erfahren eine enorme Selbstermächtigung, Selbsterhöhung und Selbstwirksamkeitserfahrung bei dem „Spazieren“ ohne Maske und Abstand, oft einhergehend mit dem Gefühl, sich im „Widerstand“ zu befinden. Die Stimmung auf den „Spaziergängen“ hat oft einen Event-Charakter. Teilnehmende bringen Lichterketten, Herz-Luftballons und Glocken mit, sie Trommeln zu Musik und ziehen mit Liedern wie „Talking about a Revolution“ von Tracy Chapman durch die Bezirke, und bis auf die genannten Sprechchöre und Parolen werden kaum Inhalte sichtbar. All dies ist leichter möglich, wenn die Polizei die Teilnehmenden auch bei Missachtungen von Corona-Regeln gewähren lässt. Auffällig ist, dass sich das Vorgehen der Polizei in verschiedenen Bezirken unterscheidet. Während beispielsweise in Tegel die „Spaziergänger_innen“ am 31. Januar 2022 kaum auf die Pflicht des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes hingewiesen wurden, machte die Polizei am 17. Januar 2022 in Köpenick immer wieder auf das Infektionsschutzgesetz aufmerksam und sperrte zum Teil Straßen ab.

„Antidemokratisches Sockel-Potenzial“
Der Berlin-Monitor zeigte bereits im Jahr 2019 die Offenheit der Berliner_innen für Verschwörungserzählungen. Deutlich wurde, dass viele Berliner_innen hinter Prozessen einer sich pluralisierenden Gesellschaft eine Verschwörung vermuten, wie etwa die hohen Zustimmungswerte zu der Aussage zeigten, die „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“. Im Jahr 2021 wurden erstmals auch Verschwörungserzählungen zur Corona-Pandemie erfasst. Knapp ein Fünftel der Berliner_innen stimmte der Aussage zu, „die Corona-Krise wurde so groß geredet, damit einige wenige davon profitieren können.“ Dieser hohe Wert zeigt, wie viele in Berlin für Verschwörungserzählungen empfänglich sind.

Die bisherigen Beobachtungen der „Spaziergänge“ bestätigen in weiten Teilen die Ergebnisse verschiedener Einstellungsstudien, wonach ein konstantes antidemokratisches Sockel-Potenzial in der Mitte der Gesellschaft existiert. Die aktuellen Versammlungen aktivieren und mobilisieren nicht mehr – aber auch nicht weniger – als dieses Potenzial. Klar zu unterscheiden: was ist demokratische Kritik, was ist Instrumentalisierung der Kritik durch Antidemokrat_innen und was sind schlicht absurde Verschwörungserzählungen, ist von zentraler Bedeutung – auch für die Einordnung der „Spaziergänge“.

 

Stand: 24. Februar 2022