Pressemitteilung: Antisemitische Vorfälle trotz Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf hohem Niveau – RIAS Berlin stellt Bericht für 2020 vor

Berlin (19. April 2021) – Zum zweiten Mal seit 2018 sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin über eintausend antisemitische Vorfälle bekannt geworden: Insgesamt 1.004 Fälle dokumentierte RIAS Berlin im Jahr 2020. Der heute vorgestellte Bericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020“ verzeichnet somit eine Zunahme von 13 % gegenüber 2019. Der Bericht kann bei RIAS Berlin bestellt oder online unter https://report-antisemitism.de/documents/Antisemitische-Vorfaelle-2020_Jahresbericht_RIAS-Berlin.pdf eingesehen werden.

Vor dem Hintergrund umfassender Einschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Anzahl der durch RIAS Berlin dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Jahr 2020 beträchtlich. Rund jeder 5. Vorfall wies außerdem einen direkten Bezug zur Pandemie und zu ihrer Eindämmung auf. So wurden Jüdinnen_Juden in Verschwörungsmythen für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht. In anderen Fällen wurde durch die Gleichsetzung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit antisemitischer NS-Politik die Schoa bagatellisiert. Fast drei Viertel der dokumentierten Versammlungen mit antisemitischen Inhalten (42 von 58) richtete sich gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Bekämpfung der Pandemie.

Verletzendes Verhalten, antisemitische Massenzuschriften und andere antisemitische Vorfälle richteten sich während der Pandemie noch gezielter gegen Jüdinnen_Juden und Israelis bzw. gegen als solche wahrgenommene Menschen: Mit 238 waren mehr Personen aus diesem Kreis betroffen als in jedem Jahr seit Beginn der Erfassung durch das Projekt im Jahr 2015. Besorgniserregend ist auch der Höchstwert an antisemitischen Vorfällen im direkten Wohnumfeld der Betroffenen: Mit 47 Vorfällen wurden 2020 fast so viele dokumentiert wie im öffentlichen Personennahverkehr (51). So wurde im März in Schöneberg eine promovierte Jüdin in einer Notiz auf dem schwarzen Brett in ihrem Wohnhaus mit „Dr. Corona“ markiert. In Prenzlauer Berg griff im November ein Mann seinen Gastgeber an, als dieser ihm von seiner jüdischen Herkunft erzählte. In Moabit wurden im Dezember mehrere Wohnhäuser, in denen jüdische Familien wohnen, großflächig mit Davidsternen beschmiert.

Eine größere Rolle als in den Jahren zuvor spielten antisemitische Verschwörungsmythen und sonstige Erscheinungen des modernen Antisemitismus, die in mehr als jedem dritten dokumentierten antisemitischen Vorfall vorkamen. Weiterhin waren aber die häufigsten Erscheinungsformen die Markierung der Jüdinnen_Juden als nicht-dazugehörig und die die Ablehnung der Erinnerung an die Schoa bzw. deren Bagatellisierung.

Auffällig ist der Anstieg derjenigen Vorfälle, die einem verschwörungsideologischen Spektrum zugeordnet wurden. Dennoch: Die Anzahl rechtsextremer/rechtspopulistischer antisemitischer Vorfälle blieb weiterhin außerordentlich hoch (271): Wie in den Jahren zuvor konnten diesem Spektrum die meisten Vorfälle in Berlin zugeordnet werden.

Stimmen zur Veröffentlichung des Berichts „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020“:

Benjamin Steinitz, Projektleiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Berlin):
„Trotz der weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der
COVID-19-Pandemie sind die bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle in Berlin nicht zurückgegangen. Im Gegenteil: wir registrierten mit 1004 Vorfällen eine Zunahme um 13 % gegenüber 2019. Für Berliner Jüdinnen_Juden blieb Antisemitismus auch in 2020 allgegenwärtig. Während der Pandemie wurden sie häufiger als zuvor in ihrem Wohnumfeld damit konfrontiert – so sind Bedrohungspotentiale entstanden, die nach der Pandemie nicht einfach verschwinden.“

Sigmount Königsberg, Beauftragter gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin:

„Antisemitismus ist ein Chamäleon und passt sich sehr schnell gesellschaftlichen Erfordernissen an. Der Vergleich der Zahlen von RIAS Berlin 2018 und 2020 untermauern diese Erkenntnis: Während 2018 der israelbezogene Antisemitismus vorherrschend war, wurden 2020 Verschwörungsideologien prägender – was nicht heißen will, dass Ersterer verschwunden war.“

Anastassia Pletoukhina, Sozialwissenschaftlerin und Nebenklägerin im Halle-Prozess:

„Die jüdische Community in Berlin hat im vergangenen Jahr ihre Aktivitäten hauptsächlich ins Internet verlagert. Für Betroffene von Antisemitismus waren Räume der Selbstermächtigung entweder auf digitale Notlösungen reduziert worden oder brachen gar weg. Doch war das Internet für Jüdinnen_Juden alles andere als ein Safe Space: Neben allgegenwärtigen Verschwörungsmythen kam es auch zu digitalen Übergriffen auf jüdische Veranstaltungen.“

Bianca Klose, Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V.:

„Unsere in diesem Jahr zwanzigjährige Erfahrung als MBR zeigt: Antisemitische Verschwörungserzählungen müssen, ebenso wie Rechtsextremismus und Antisemitismus, gesamtgesellschaftlich als Gefahr für die demokratische Kultur erkannt und benannt werden. Es ist offensichtlich, dass Antisemitismus nichts mit realen Jüdinnen und Juden zu tun hat, sondern mit der Denkweise der Antisemiten. Es braucht hier keinen Dialog und kein Verständnis, sondern eine kritische Kultur des Widerspruchs am Abendbrottisch, auf den Straßen und in der politischen Debatte, mit klaren Haltungen und Positionen.“

Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus:

„Antisemitische Einstellungen existieren unabhängig von der Corona-Pandemie – diese wird aber zum Vorwand genommen, um antisemitische Verschwörungsmythen zu verbreiten. Die Fallzahlen von RIAS Berlin zeigen, dass Antisemitismus häufiger und aggressiver geäußert wird, wenn er öffentliche Artikulationsmöglichkeiten hat, die zum Vorwand genommen werden können, das vorhandene antisemitische Ressentiment auszuagieren. Die antisemitischen Einstellungen sind dabei die Grundlage für das Verhalten und die Aggression – ohne antisemitische Überzeugungen würde es keinen der Vorfälle geben.“

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) wurde im Januar 2015 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. gegründet. Sie wird gefördert durch das Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti-Diskriminierung und die Amadeu Antonio Stiftung. Ziel von RIAS Berlin ist eine zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und die Vermittlung von Unterstützungsangeboten an die Betroffenen. RIAS Berlin ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.

KONTAKT
E-Mail: presse@report-antisemitism.de
Tel.: 030 – 817 985 821
www.report-antisemitism.de

Pressemitteilung: Antisemitische Vorfälle trotz Einschränkungen des öffentlichen Lebens auf hohem Niveau – RIAS Berlin stellt Bericht für 2020 vor

Berlin (19. April 2021) – Zum zweiten Mal seit 2018 sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin über eintausend antisemitische Vorfälle bekannt geworden: Insgesamt 1.004 Fälle dokumentierte RIAS Berlin im Jahr 2020. Der heute vorgestellte Bericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020“ verzeichnet somit eine Zunahme von 13 % gegenüber 2019. Der Bericht kann bei RIAS Berlin bestellt oder online unter https://report-antisemitism.de/documents/Antisemitische-Vorfaelle-2020_Jahresbericht_RIAS-Berlin.pdf eingesehen werden.

Vor dem Hintergrund umfassender Einschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte aufgrund der COVID-19-Pandemie ist die Anzahl der durch RIAS Berlin dokumentierten antisemitischen Vorfälle im Jahr 2020 beträchtlich. Rund jeder 5. Vorfall wies außerdem einen direkten Bezug zur Pandemie und zu ihrer Eindämmung auf. So wurden Jüdinnen_Juden in Verschwörungsmythen für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht. In anderen Fällen wurde durch die Gleichsetzung der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit antisemitischer NS-Politik die Schoa bagatellisiert. Fast drei Viertel der dokumentierten Versammlungen mit antisemitischen Inhalten (42 von 58) richtete sich gegen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Bekämpfung der Pandemie.

Verletzendes Verhalten, antisemitische Massenzuschriften und andere antisemitische Vorfälle richteten sich während der Pandemie noch gezielter gegen Jüdinnen_Juden und Israelis bzw. gegen als solche wahrgenommene Menschen: Mit 238 waren mehr Personen aus diesem Kreis betroffen als in jedem Jahr seit Beginn der Erfassung durch das Projekt im Jahr 2015. Besorgniserregend ist auch der Höchstwert an antisemitischen Vorfällen im direkten Wohnumfeld der Betroffenen: Mit 47 Vorfällen wurden 2020 fast so viele dokumentiert wie im öffentlichen Personennahverkehr (51). So wurde im März in Schöneberg eine promovierte Jüdin in einer Notiz auf dem schwarzen Brett in ihrem Wohnhaus mit „Dr. Corona“ markiert. In Prenzlauer Berg griff im November ein Mann seinen Gastgeber an, als dieser ihm von seiner jüdischen Herkunft erzählte. In Moabit wurden im Dezember mehrere Wohnhäuser, in denen jüdische Familien wohnen, großflächig mit Davidsternen beschmiert.

Eine größere Rolle als in den Jahren zuvor spielten antisemitische Verschwörungsmythen und sonstige Erscheinungen des modernen Antisemitismus, die in mehr als jedem dritten dokumentierten antisemitischen Vorfall vorkamen. Weiterhin waren aber die häufigsten Erscheinungsformen die Markierung der Jüdinnen_Juden als nicht-dazugehörig und die die Ablehnung der Erinnerung an die Schoa bzw. deren Bagatellisierung.

Auffällig ist der Anstieg derjenigen Vorfälle, die einem verschwörungsideologischen Spektrum zugeordnet wurden. Dennoch: Die Anzahl rechtsextremer/rechtspopulistischer antisemitischer Vorfälle blieb weiterhin außerordentlich hoch (271): Wie in den Jahren zuvor konnten diesem Spektrum die meisten Vorfälle in Berlin zugeordnet werden.

Stimmen zur Veröffentlichung des Berichts „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020“:

Benjamin Steinitz, Projektleiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS Berlin):
„Trotz der weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund der
COVID-19-Pandemie sind die bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle in Berlin nicht zurückgegangen. Im Gegenteil: wir registrierten mit 1004 Vorfällen eine Zunahme um 13 % gegenüber 2019. Für Berliner Jüdinnen_Juden blieb Antisemitismus auch in 2020 allgegenwärtig. Während der Pandemie wurden sie häufiger als zuvor in ihrem Wohnumfeld damit konfrontiert – so sind Bedrohungspotentiale entstanden, die nach der Pandemie nicht einfach verschwinden.“

Sigmount Königsberg, Beauftragter gegen Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde zu Berlin:

„Antisemitismus ist ein Chamäleon und passt sich sehr schnell gesellschaftlichen Erfordernissen an. Der Vergleich der Zahlen von RIAS Berlin 2018 und 2020 untermauern diese Erkenntnis: Während 2018 der israelbezogene Antisemitismus vorherrschend war, wurden 2020 Verschwörungsideologien prägender – was nicht heißen will, dass Ersterer verschwunden war.“

Anastassia Pletoukhina, Sozialwissenschaftlerin und Nebenklägerin im Halle-Prozess:

„Die jüdische Community in Berlin hat im vergangenen Jahr ihre Aktivitäten hauptsächlich ins Internet verlagert. Für Betroffene von Antisemitismus waren Räume der Selbstermächtigung entweder auf digitale Notlösungen reduziert worden oder brachen gar weg. Doch war das Internet für Jüdinnen_Juden alles andere als ein Safe Space: Neben allgegenwärtigen Verschwörungsmythen kam es auch zu digitalen Übergriffen auf jüdische Veranstaltungen.“

Bianca Klose, Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V.:

„Unsere in diesem Jahr zwanzigjährige Erfahrung als MBR zeigt: Antisemitische Verschwörungserzählungen müssen, ebenso wie Rechtsextremismus und Antisemitismus, gesamtgesellschaftlich als Gefahr für die demokratische Kultur erkannt und benannt werden. Es ist offensichtlich, dass Antisemitismus nichts mit realen Jüdinnen und Juden zu tun hat, sondern mit der Denkweise der Antisemiten. Es braucht hier keinen Dialog und kein Verständnis, sondern eine kritische Kultur des Widerspruchs am Abendbrottisch, auf den Straßen und in der politischen Debatte, mit klaren Haltungen und Positionen.“

Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus:

„Antisemitische Einstellungen existieren unabhängig von der Corona-Pandemie – diese wird aber zum Vorwand genommen, um antisemitische Verschwörungsmythen zu verbreiten. Die Fallzahlen von RIAS Berlin zeigen, dass Antisemitismus häufiger und aggressiver geäußert wird, wenn er öffentliche Artikulationsmöglichkeiten hat, die zum Vorwand genommen werden können, das vorhandene antisemitische Ressentiment auszuagieren. Die antisemitischen Einstellungen sind dabei die Grundlage für das Verhalten und die Aggression – ohne antisemitische Überzeugungen würde es keinen der Vorfälle geben.“

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) wurde im Januar 2015 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. gegründet. Sie wird gefördert durch das Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti-Diskriminierung und die Amadeu Antonio Stiftung. Ziel von RIAS Berlin ist eine zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und die Vermittlung von Unterstützungsangeboten an die Betroffenen. RIAS Berlin ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.

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