“Durch die kontinuierliche Arbeit der Projekte und Autor/innen eröffnen sich Einblicke in Vorgänge und Prozesse, die jenseits polizeilicher Aufgabenfelder liegen oder durch Kriterien des Verfassungsschutzes nicht erfasst werden”, schreiben die Herausgeber des Berichts vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR).
Tatsächlich unterscheidet sich der Fokus der “Berliner Zustände” deutlich von seinem staatlichen Pendant: Denn während im offiziellen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2008 vor allem auf die Gefahr von gewaltbereiten Islamisten und Linksradikalen hingewiesen wird, setzt der alternative Bericht gänzlich andere Schwerpunkte. Etwa auf Homophobie.
Aufgeschreckt durch die Schändung des Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen im Tiergarten sowie brutale Übergriffe an Cruiser-Treffpunkten sowie vor dem SO36 wurde “trans- und homophober Gewalt endlich die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihr seit Jahrzehnten verweigert wurde”, formuliert es die Gruppe Gays & Lesbians aus der Türkei (Gladt).
Insofern wurden im Jahr 2008 Weichen gestellt: Runde Tische befassten sich mit der grassierenden Homophobie, der rot-rote Senat verfasste inzwischen einen landesweiten Aktionsplan gegen die Feindlichkeit gegenüber Homosexuellen. Die Gruppe “Gladt” zeichnet diese Entwicklungen und die kontroverse Debatte dazu in ihrem Beitrag “Kreuzberg als Chiffre” kritisch nach. Wobei insbesondere die Fokussierung auf sogenannte migrantische Täter bei homophoben Übergriffen von Gladt hinterfragt wird.
Eine weiteres Schlaglicht auf Lesben- und Schwulenfeindlichkeit werfen Autoren des Antifaschistischen Pressearchivs, die homophobe und sexistische Einstellungen im Ring Nationaler Frauen und dem Landesverband der NPD beschreiben. Titel ihres Beitrags: “Nationalistisches Moralapostel”.
Neben der Analyse bestimmter Phänomene liefert der Bericht »Berliner Zustände« auch eine Chronik, Vorortberichte und Debattenbeiträge. Akribisch dokumentiert etwa die Opferberatungsorganisation Reach Out ihre jährliche Auswertung rechtsextremer, rassistischer und antisemitischer gewalttätiger Übergriffe. “Für das Jahr 2008 müssen wir mit 148 Angriffen einen Anstieg der Gewalt feststellen”, erläutert Sabine Seyb von Reach Out. Die Beratungsstelle legt in dem nun vorliegenden Bericht überdies an zwei konkreten Beispielen den äußerst problematischen Umgang von Polizisten mit Opfern rassistischer Gewalt dar. Solche Fälle sucht man im offiziellen Verfassungsschutzbericht vergeblich.
Fakten aus der Broschüre “Berliner Zustände 2008”
- 14 Prozent der BerlinerInnen (ab 14 Jahren) weisen rechtsextreme Einstellungen auf. Bei der letzten Befragung vor vier Jahren waren es allerdings noch 16 Prozent, die völkisch-nationalistische Auffassungen vertraten. Dennoch handelt es sich beim Rechtsextremismus um kein Randphänomen.
- Die Opferberatungsstelle Reach Out erfasste für das Jahr 2008 insgesamt 148 rechte oder rassistische Angriffe (2007: 112). Die größte Gruppe dabei waren 65 Angriffe aus rassistischen Motiven (2007: 39).
- An der Spitze mit 30 Gewalttaten lag der Bezirk Friedrichshain, 15 Angriffe wurden in Lichtenberg dokumentiert.
- Die Diskrepanz Ost (111 Gewalttaten) gegenüber West (37) erklärt sich Reach Out mit der fehlenden Dokumentation im Westen.
- Im Jahr 2008 wurden zehn homophobe Übergriffe verzeichnet, davon sieben in Ostberliner Bezirken und drei im Westen.
Die Broschüre “Berliner Zustände” ist im Internet verfügbar: www.mbr-berlin.de
(Martin Kröger)