Der bisher letzte Übergriff, den die Antifa Friedrichshain dokumentiert, ereignete sich am 1. Februar. Ein alternativer Jugendlicher wurde am frühen Abend in der U-Bahn in Richtung Friedrichshain von drei Neonazis angegriffen und verletzt. Am 21.Januar attackierten Neonazis mehrere Linke. Am 14.Januar wurden vier Spanier gejagt, am 13.Januar waren es wieder vermeintliche Linke, die aus einer Kneipe heraus von Neonazis angegriffen und verfolgt worden.
Am 6.Januar kam es zum bislang schwersten Angriff in diesem Jahr. Unabhängig voneinander wurden fünf Jugendliche in der Rigaer Straße angepöbelt und gejagt. Einer der Angegriffenen trug eine gebrochene Hand und Schürfungen davon. Die Täter waren schwarz gekleidet, vermummt und mit Schlagstöcken und Reizgas bewaffnet. Es handelte sich offenbar um Neonazis, die im linken Szenekiez gezielt nach Personen Ausschau hielten, die alleine unterwegs waren. Am früheren Abend sei ein Mitglied der verbotenen Kameradschaft Tor und Anti-Antifaaktivist im Waf-Salon, einer linken Kneipe, gesehen worden, berichtet die Antifa Friedrichshain in diesem Zusammenhang.
Der Ostberliner Stadtteil Friedrichshain verzeichnet derzeit die meisten rechten Übergriffe in Berlin. In einer gemeinsam von der Opferberatungsstelle Reach Out und dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Apabiz vorgelegten Chronologie rechtsextremer, rassistischer, antisemitischer und homophober Übergriffe im Jahr 2005 sind 25 Angriffe dokumentiert, gegenüber sieben im Jahr 2004. Insgesamt sei die Zahl der Gewalttaten und verbalen Attacken in Berlin im Jahr 2005 beinahe doppelt so groß gewesen wie im Jahr 2004. Der Großteil der Übergriffe habe »im öffentlichen Raum an Bahnhöfen stattgefunden«.
»Sicherlich haben die ›Freien Kräfte‹ ein Auge auf den Kiez geworfen«, sagt Marie Roth von der Antifa Friedrichshain. »Es ist am vorletzten Wochenende auch ein Neonazi aus dem Umfeld der verbotenen Kameradschaft Tor gesehen worden, der in der Rigaer Straße die Lage prüfte, während sich andere in einem Park versteckten und warteten, ob sie wieder in den Nordkiez eindringen können.«
Als Antwort auf die Gewalt von Neonazis soll ein Bürgerbündnis gegen Rechts gegründet werden. Eine »Initiative Friedrichshain« lud Institutionen ein und verteilte auch Flugblätter im Kiez. Am Dienstag voriger Woche fand das erste Treffen statt. Neben Anwohnern waren ein Vertreter der Antifa, Helga Seyb von Reach Out, die VVN/BdA-Friedrichshain, Vertreterinnen von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus und die Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (Linkspartei) anwesend. Auf der Versammlung wurden Ideen für ein gemeinsames Vorgehen gesammelt. Es soll eine breite Öffentlichkeit im Bezirk darüber aufgeklärt werden, dass es diese rechtsextreme Gewalt gibt.
»Der Rassismus in Friedrichshain nimmt schleichend zu«, sagte Ulrich Spies (SPD) auf der Veranstaltung. Es müsse etwas getan werden, damit die Neonazis nicht glaubten, sie agierten in einem gesellschaftlichen Umfeld, das ihnen gewogen sei. Helga Seyb von Reach Out meint: »Wenn deutlich wird, dass die Jugendlichen nicht alleine sind, sondern auch Unterstützung aus der Gesellschaft erfahren, sehen die Neonazis, dass es für sie politisch teurer wird, derartige Angriffe durchzuführen.«
Einen Teil des Problems sieht Seyb auch bei der Polizei. Bisher sei es jedoch so, dass die Übergriffe oft als »Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen« wahrgenommen würden. Als Beispiel schildert sie einen Fall, bei dem ein Migrant von vier Neonazis aus einem fahrenden Auto heraus zunächst angepöbelt und dann auch tätlich angegangen worden sei. Als der Angegriffene sich zu Wehr gesetzt habe, hätten die Täter die Polizei gerufen und den Beamten erzählt, dass sie angegriffen worden seien. Letztlich sei das Opfer des Übergriffs festgenommen und der Fall in der Kartei »Verkehrsdelikte« abgeheftet worden.
Neonazis riefen im Falle einer Gegenwehr immer öfter selbst die Polizei, erläutert Seyb. Dies führe auch zu der mangelnden Bereitschaft auf Seiten der Opfer, den Vorfall anzuzeigen. Sie befürchteten oft selbst Repressalien, teilweise seien die Daten der Anzeigenden auch schon in die Hände von Neonazis gelangt. »Die Polizei müsste eine höhere Sensibilität dafür haben, Geschehnisse auch in eine andere Richtung zu interpretieren«, sagt sie.
Die Ideen, dem Problem beizukommen, reichen von Plakataktionen bis zum Einrichten einer Beratungsstelle, bei der sich sowohl Betroffene von rechter Gewalt als auch Bürger, die Übergriffe oder rechte Propaganda beobachten, melden können. Zudem müssten auch weiterhin rechte Aktivitäten genau dokumentiert werden.
Diese rechte Gewalt im Kiez um den U-Bahnhof Samariterstraße ist indes nicht neu. Im November 1992 wurde der Antifa und Hausbesetzer Silvio Meier dort von Neonazis erstochen. Bis ins Jahr 1991 hätten Neonazis immer wieder besetzte Häuser in dem Stadtteil angegriffen, erzählt Said, ein ehemaliger Hausbesetzer und langjähriger Anwohner in Friedrichshain. »In der Gegend vom Ringcenter an der Frankfurter Allee bis zum S-Bahnhof Ostkreuz waren und sind die Neonazis aktiv«, sagt er. »Wir sind damals oft mit Knüppeln die Runde gelaufen«, erzählt er weiter, »und ab 1993 war zumindest im Südkiez Ruhe. Damals war es auch noch so, dass du bei den Häusern geklingelt hast und immer zehn Leute mitgekommen sind.« Außerdem habe es immer wieder Aktionen an Treffpunkten von Neonazis gegeben.
Gigi Müller von der »Unabbhängigen BürgerInneninitiative Kommunikatives Leben in Zusammenarbeit«, die den Mieterladen in der Kreutziger Straße betreibt, wohnt schon lange im Kiez und hat sowohl die Auseinandersetzungen damals als auch die jüngsten Übergriffe erlebt. Sie meint: »Viele Häuser sind in den letzten Jahren geräumt oder privatisiert worden, und viele ehemals Linke haben sich zurückgezogen. Dadurch wurde öffentlicher Raum aufgegeben, den die Neonazis jetzt besetzen können.
(Peter Sonntag)